Durchs (Schweizer) Land, später auch durch andere zieht die eine Hauptfigur, Thomas, zunächst zu Fuss, nachdem er eines Sommerabends seine Familie völlig überraschend verlassen hat. Überrascht, aber gefasst reagiert seine Ehefrau Astrid, die ab sofort allein für die zwei Kinder sorgen wird und somit das gewohnte, durchaus bürgerliche Leben fortsetzt, dem Thomas vielleicht entgehen will.
Es wechseln sich längere Abschnitte je über die beiden Partner ab; die Geschichte wird also auf zwei Schienen vorangetrieben – bis zuerst die Chronologie zu wanken beginnt, dann aber vor allem heftige Zweifel an der Realität des Geschehens eintreten: Bis zum Schluss bleiben für die LeserInnen zwei Möglichkeiten offen, was sich wirklich ereignet hat. (Mehr sei hier nicht verraten!)
Peter Stamm irritiert in verschiedener Hinsicht; er lässt uns über manches, namentlich bei den Hauptpersonen, im Ungewissen – zweifellos in einem ihm eigenen Stil.
UND AutorInnen haben sich zum Buchclub getroffen um sich über die Fragen zu Stamms neuem Buch auszutauschen.
Warum geht er, wenn er dann nicht mal etwas Spektakuläres unternimmt?
Elias Rüegsegger: Gibt es einen Grund, sein gutbürgerliches, durchschnittliches und unspektakuläres Leben hinter sich zu lassen? Aufzubrechen? Thomas, die Hauptfigur, verlässt sein bisheriges Leben – urplötzlich, scheinbar ohne Grund. Das provoziert, hat der Mann denn kein Gefühl für Verantwortung? Warum geht er, wenn es keinen Grund gibt? Warum geht er, wenn er dann nicht mal etwas Spektakuläres unternimmt – ein Abenteuer würde man erwarten. Der Erzähler hilft uns nicht – vermutlich will er das auch nicht. Er schweigt über Gründe des Weggangs. Marianne – hast du eine Ahnung, wieso er einfach geht? Und hast du dir schon einmal überlegt, einfach alles hinter dir zu lassen?
Sein Leben erscheint oberflächlich – zum Weglaufen?
Marianne Senn: Weshalb läuft Thomas weg? – Vielleicht wird ihm die Inhaltslosigkeit seines Lebens sehr bewusst. In jungen Jahren hat er seine heutige Frau verehrt. Er las Bücher, welche sie empfahl, obschon diese nicht wirklich seinen Interessen entsprachen. Als sie später einen Freund hatte, bewegte er sich in dessen Kreis, nur um in ihrer Nähe zu sein. Später haben sie geheiratet, doch ihrer Beziehung fehlt die Tiefe. Sein Leben erscheint oberflächlich – zum Weglaufen? Wurde die fehlende Gefühlswelt für ihn zum Gefängnis? – Ja, auf Geschäftsreisen in den USA hatte ich mir mal vorgestellt, wie es wäre unterzutauchen – ein anderes Leben zu führen. Dies hatte nichts mit Unzufriedenheit zu tun. Eher ist mir bewusst, wie viele Möglichkeiten das Leben bietet und wir nur einige ausschöpfen. Schön ist es geliebt und gelebt zu haben. Elisabeth – weshalb denken Astrid und Thomas stets aneinander?
Will der Autor nur die Kulissen hinstellen – alles andere ist unserer eigenen Interpretation überlassen?
Lisbeth Wieser: Eine Frage die ich nicht beantworten kann. Eine Glaswand trennt mich von den Gefühlen von Astrid und Thomas Ich finde keinen Zugang zu ihren Gedanken. Das Aneinanderdenken ist für mich eher farblos und unbelebt. Mir fehlt die Tiefe der Gefühle von Trauer, Verzweiflung, auch Wut, das Nachdenken über den Sinn des Lebens, die Verlorenheit. Eben all die Emotionen, die mich mittragen lassen, Gedankenanstösse geben um Teil der Geschichte zu werden. Beide bleiben mir fremd. Bis zum Ende der Geschichte verlasse ich meinen Beobachterposen nicht, ein Theaterstück ohne innere Anteilname. Seltsame Geschichte, sie lässt mich ratlos zurück. Vielleicht ist dies auch die Absicht des Autors. Er will nur die Kulissen hinstellen, alles andere ist unserer eigenen Interpretation überlassen. Annemarie: Regt die Geschichte an über Alltagsroutine nachzudenken, standhalten oder flüchten, etwas ändern oder sein lassen?
Also er macht das, was er schon immer gemacht hat: er geht einfach weiter.
Annemarie Voss: Sicher, ich denke darüber nach, was so schlecht an Alltagsroutine ist. Die meisten Menschen finden sich damit zurecht, etwas Abwechslung (Ferien, Geburtstags- und andere Familienfeiern) reichen den meisten. Wenn man etwas ändert, ist es nach kurzer Zeit sowieso auch wieder Routine. Sicher gibt es einen Unterschied, ob man etwas ändert, weil man in einer Situation leidet, oder ob man sich einfach nur langweilt. Es ist meistens nicht die Routine, die uns ausbrechen lässt, falls wir es überhaupt wagen, sondern der Gedanke an verpasste Gelegenheiten. Weg vom falschen Job, dem falschen Partner, dem falschen Wohnort oder auch der falschen Vergangenheit. Aber auch das kann ich in Thomas Weglaufen nicht erkennen. Der Autor hilft mir dabei auch nicht auf die Sprünge, weil er mir Thomas Gedanken, Wünsche und Emotionen nicht mitteilt. Bei Thomas habe ich nicht einmal den Eindruck, dass er ausbricht, sondern er gibt einem momentanen Impuls nach. Er geht einfach und ist dann nicht fähig, anzuhalten, umzukehren. Also er macht das, was er schon immer gemacht hat: er geht einfach weiter. Und wohl erneut aus einem Impuls heraus geht er wieder nach Hause.
Aber ich kann es nicht nachvollziehen, nicht nachempfinden, es fehlt auch eine Erkenntnis für dieses Handeln, kein Aha-Erlebnis; ich bleibe ratlos und habe somit das Gefühl, dass mir das Buch nichts bringt. Und gut unterhalten hat es mich auch nicht. Schöne Sätze können mich nicht entschädigen für Inhalte und Aussagen.
Einfach abhauen: Darüber habe auch ich gelegentlich nachgedacht.
Heinz Gfeller: Liebe Mitlesende: Von allem, was ihr bisher hier mitgeteilt habt, verstehe ich gut, dass ihr darauf kommt; und ich teile die meisten eurer Ansichten. Mein Grund-Eindruck war (auch): Das Buch befriedigt mich weithin nicht, war auch kein besonderes Lesevergnügen; es bleibt aber eine Irritation, die der Autor wohl wirklich gesucht hat, und auf die wir mit unsrer Diskussion auch eingestiegen sind. Also doch ein Erfolg für Peter Stamm?
Über die Hauptfrage, die wir bisher aufgegriffen haben – die nach dem Alltag und dem Aussteigen-Wollen – mag ich nicht zu sehr grübeln. Einmal, weil der Autor tatsächlich wenig Handfestes liefert; aber auch, weil das Thema mir abgenutzt scheint, eben just in neuerer Schweizer Literatur, wie auch im realen Leben. Einfach abhauen: Darüber habe auch ich gelegentlich nachgedacht. Doch wir alle wissen, dass darin nicht das eigentliche Leben stecken kann. Ja, liebe Annemarie, ich finde unsern Alltag wirklich häufig banal; wenn man ihn aber vernünftig bewältigt, heisst das schon Einiges.
Bleibt für mich, was den Roman angeht, der merkwürdige, vielleicht geniale Kniff mit den zwei Fortsetzungen/Enden…
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