«Ein Nachdenken über das Verhältnis zu uns, zu unserer Mitwelt und zur Welt überhaupt». Das bringe uns das hohe Alter, schreibt Peter Gross in seinem Buch «Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?».Tönt gut. Doch: Soll es uns ein Anliegen sein, die Reflexion aufs hohe Alter zu vertagen?
Und: Machen sich nicht viele Leute schon sehr früh im Leben fundamentale Gedanken über ihr Sein – ohne jemals alt zu werden? Nicht nur Künstler wie zum Beispiel Mani Matter, der schon sehr früh starb. Oder Elvis. Und Marylin Monroe. Nicht zu vergessen John F. Kennedy. Aber auch der Grossvater einer Kollegin. Und auch sonst ganz viele andere Menschen.
Leben werten
Ein Leben, das in der Mitte zu Ende ist, sei ein halbes Leben – schreibt Gross gleich mehrmals. Ein halbes Leben hat somit auch nur den halben Wert. Das stimmt nicht bloss nachdenklich – Das verstört.
Menschen, die nicht im hohen Alter sterben, sind nicht gleichwertig wie Menschen, die eben nicht «Vollkommenheit» erreichen. Liegt es an uns, zu beurteilen, wann ein Leben ein Ganzes ist?
Peter Gross beschreibt die Errungenschaft der Hochaltrigkeit: Die Zeit, das eigene Leben zu reflektieren. Er schreibt fatal: «Wer mit 45 Jahren stirbt, wird nicht auf sein Leben zurückblicken können, wer mit fünfzig Jahren tot ist, kann nicht noch dreissig Jahre Lebenserfahrung und damit Kompetenzen auftürmen und sie den nachkommenden Generationen zugute kommen lassen». Lernen können wir von den älteren Menschen, das ist sicher. Aber nicht nur – auch umgekehrt. Die älteren Menschen hinterlassen den nachfolgenden Generationen riesige gesellschaftspolitische und ökologische Baustellen. Die Lösungen dafür kennen deren VerusacherInnen oft nicht.
Plötzlich leben bis zu vier Generationen gleichzeitig. Die Generationen lernen voneinander und leben miteinander. Das geht nur, wenn sich die Generationen auf Augenhöhe begegnen können: Wenn ein 20-Jähriger und ein 80-Jähriger miteinander reden können, ohne dass beachtet wird, dass der Junge nur ein Viertelleben gelebt hat. Schliesslich ist jedes Leben ein Ganzes.
Kinder sind nicht Güter
Gross geht in seiner unnötigen Provokation noch weiter. Er spricht davon, dass die Tragfähigkeit der Welt erschöpft sei und spielt damit auf Probleme wie Armut, die Klimaveränderung, die knapper werdenden Ressourcen an. Seine Lösung: Habt weniger Kinder, wenn ihr entwickelte Menschen seid. «Je seltener ein Gut, desto wertvoller ist es auch ökonomisch gesehen». Mit «Gut» meint Gross in diesem Zusammenhang nicht Gold oder Erdöl, er spricht von Kindern – Menschen am Anfang ihres Lebens, Menschen mit Zukunft. Weniger Kinder zu haben, das sei auch ökonomisch interessant, findet Gross und missbraucht hier Argumente der Nachhaltigkeit gegen das Leben selbst. Schwach.
Peter Gross’ Gebet
Gross selber muss sich zu den Älteren zählen. Er ist 73 Jahre alt und begibt sich in seinem Buch auf Sinnsuche. Endlich ein Buch, das den Sinn des Alters erklärt, erhofft man sich von der Lektüre. Doch diese Schrift wertet vielmehr die jüngeren Generationen ab. In seinem Buch repetiert Peter Gross mantramässig seine Botschaft: «Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Verlängerung des Lebens und des Sterbens ermöglicht, was einem kurzen Leben nicht vergönnt ist».
Für ältere Menschen mag dieses Buch vielleicht eine wohlwollende Bestätigung sein. Jüngere LeserInnen schüchtert dieses Buch ein – oder provoziert sie und weckt ihre Wut. Wer es möchte, soll dieses Buch kaufen. Ich würde es nicht wieder tun.
Deine kritische Rezension, Elias, macht mich neugierig auf das Buch.
Manchmal frage ich mich auch: wozu werden wir sooo alt ?
Ich finde,jedes Leben – sei es auch sehr, sehr kurz – ist ein Ganzes.
Karin