Lust auf mehr?
Jeden Freitag erscheinen hier neue Geschichten zum Thema «Ein ganzes Leben (auf einer Seite)».
Das ist Fredis Geschichte
Noah Werder (23)
Geboren in irgendeinem Kaff, als ein Kind von dreien. Seine Kindheit war, was sie eben war. Sein Vater war nie stolz auf ihn und das spürte er. René, sein Bruder, war immer besser, in allem. Seine Mutter war zuhause. Sie war frustriert und ihre Kinder waren alles, was sie hatte. Es ging bergab mit ihr, als auch der letzte der drei weg von daheim war. Fredi ging zur Schule und es gefiel ihm nicht besonders. Aber schlimm fand er es auch nicht. Er passte rein, war kein Überflieger, aber ging auch nicht unter. Er ging hin, weil er hingehen musste.
Danach begann irgendwann das richtige Leben – in der Arbeitswelt. Er machte seine Lehre. Er arbeitete. Er hasste es nicht. Jeden Tag stand er auf und ging hin. Spätestens am Freitag feierte er, dass er Feierabend, Wochenende hatte. Das machte es nicht einfacher am nächsten Tag aufzustehen. Besonders, wenn er bereits vor Freitag getrunken hatte. Aber er musste aufstehen, denn er musste zur Arbeit. Er ging, weil er gehen musste.
Irgendwann einmal im «Suff» traf er Erika. Es war nichts Spektakuläres. Sie war die Schwester oder Cousine irgendeines Freundes. Sie war nicht perfekt. Aber er ja auch nicht. Sie heirateten. Anfangs hatten sie Sex. Ob es ihr gefiel, weiss er nicht. Aber für ihn war es in Ordnung. Und sie wurde schwanger. Gefallen musste es ihr ja nicht, um ein Kind im Bauch zu haben. Das Kind kam und es schrie in der Nacht. Erika stand auf, kümmerte sich darum, kochte und machte den Haushalt. Und Fredi sollte die Familie ernähren. Und er tat es, weil er es eben musste.
Aus einem Kind wurden zwei (gleich beim zweiten Mal Sex nach dem ersten Kind schlug der Blitz ein). Und dann irgendwann drei. Die Kinder wurden grösser. Fredi wurde müder, älter, faltiger. Er war nicht stolz auf seine Kinder: Andreas, René und Linda. Er bekam zu wenig Dankbarkeit dafür, was er jeden Tag machte. Für alles, was er machte, weil er es eben machen musste. Sex gab’s jetzt wirklich keinen mehr. Und er lebte neben Erika her. Irgendwann gingen die Kinder in die Lehre und ins Gymnasium. Und Fredi ging weiterhin arbeiten. Er musste ja. Das Haus zahlte sich nicht von selbst. Das Essen auch nicht.
Die Jahre vergingen. Er sprach kaum. Ausser er regte sich auf. Und es gab viel, worüber man sich aufregen konnte: Der Nachbar wäscht um 22 Uhr noch, mäht den Rasen sonntags, entsorgt sein Altglas spätabends. Die Kinder waren weg, nur noch er und Erika in dem kleinen Reihenhaus. Er zählte die Jahre, die Tage, die Stunden, die Sekunden, bis er endlich nicht mehr arbeiten musste. Er ging ja nur deswegen: weil er musste.
Fredi freute sich auf die Pension. Dann konnte er endlich tun, was er tun wollte. Niemand sollte ihn aufhalten. Jeden Tag könnte er dann ausschlafen. Er könnte nochmal reisen oder an einem Mittwoch wandern und skifahren gehen. Und es ging nicht mehr lange bis dahin. Nur noch 300 Tage zu je acht Stunden und vierundzwanzig Minuten. Eine Viertelstunde Znüni, eine halbe Mittag. Mehr Pausenzeit hätte er mit seinen Arbeitskollegen sowieso nicht ausgehalten. Nur noch eine kurze Zeit, in welcher er ging, weil er musste.
Fredi wurde Grossvater. Und er sagte, dass er auf die Kinder aufpassen würde. Einen bis zwei Tage in der Woche, mit Erika zusammen. Denn wenigstens sonst musste er jetzt nichts mehr. An den restlichen Tagen wusste er nämlich auch gar nicht, was er tun sollte. Der Garten war in gutem Zustand. Die Post war schnell geholt. Gekocht wird immer noch von Erika. Sie kann es ohnehin besser. Er musste nichts. Ausser die Zeit herumbringen. Die Tage wurden zur Ewigkeit. Am Mittag war er schon 6 Stunden wach. Hatte alle Zeitungen gelesen, die er wollte, und sich schon viel aufgeregt. Er schrieb Leserbriefe und Kommentare, verschaffte seinem Ärger Luft. Aber wie sollte er die Zeit nach dem Mittagessen füllen? Er schaute fern oder regte sich weiter auf, wenn die Tochter des Nachbarn vor 13 Uhr wieder auf ihrer Querflöte übte. Ja, er musste nichts. Ausser die Zeit totschlagen. Fredi hatte sich das anders vorgestellt. Noch 10 bis 20 Jahre die Zeit totzuschlagen, wäre wohl genauso hart wie Arbeit.
Fredi wurde noch älter, noch faltiger und kleiner. Alles wurde anstrengender und er musste sich viel aufregen. Und wieder zählte er die Jahre, die Tage, die Stunden, Minuten und Sekunden. Erika war weg. Sie hatte Glück. Er war noch da – alleine. Existierte vor sich hin. Er musste nichts mehr. Schon lange nicht mehr. Ausser die Zeit zu leben. Bis er dann nicht mehr musste.
Und dann war es soweit. Er spürte es kurz davor. Seine Enkel kamen zu Besuch. Und er weinte. Jetzt war es vorbei. Er musste wirklich nichts mehr.
Das Frühchen
Annemarie Voss (78)
Das Leben begann zu früh – das Sterben ebenfalls.
Das Kind war kein «Es», sondern ein winziger Bub. In der 32. Schwangerschaftswoche zu früh geboren, verbrachte er seine ersten Lebenswochen auf der Neonatologie. Gepflegt und ernährt von Medizinalpersonen mit der Unterstützung von Apparaten. Von seiner Mutter erhielt er den Namen Jonas und die Drogenabhängigkeit. Nach dem Drogenentzug und mit dem Erreichen eines Gewichtes von 2’900 g kam Jonas in eine Pflegefamilie. Seine Mutter war nicht in der Lage, für ihr Kind zu sorgen. Jonas’ Gesundheitszustand war eine Herausforderung für seine Pflegeeltern. Durch die Folgen des mütterlichen Drogenkonsums während der Schwangerschaft war Jonas’ Hirnfunktion beeinträchtigt und sein Immunsystem geschwächt.
Mit dem Schuleintritt begann für Jonas die Wahrnehmung seines Unvermögens, den Erwartungen gerecht zu werden. Im Pubertätsalter wurde er rebellisch, kleinkriminelle Handlungen folgten, die Jugendstrafen nach sich zogen. Berufsausbildungen wurden abgebrochen, die Zukunftsperspektiven waren düster. Mit 19 Jahren sah Jonas nur noch einen Ausweg, den, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Ich, die Ahnende
Jürg Krebs (78)
Ich ahne als kleines Kind, dass die Schule mich einengen wird, zu lernen, was andere wollen. Ich gebe mich unreif und gewinne damit ein Jahr Spiel. Als Schülerin spüre ich oft, was andere Kinder empfinden und was sie bald tun. Bevor ich das Tun der Lehrer verstehe, muss ich ihre Gefühle entdecken. Danach kann ich gut reagieren. …
Ich studiere Wirtschaft und Medizin, ich werde Psychiaterin. …
Bei meiner Arbeit in der Privatwirtschaft erfahre ich, wie viele Männer wegen ihrem dominanten Sexualtrieb Frauen unterdrücken sowie selbst beruflich daran scheitern – und nichts ändern wollen! …
Jetzt arbeite ich für eine soziale Frauen-Organisation und entwickle meine Therapieformen weiter. Ich äussere zum Beispiel oft meine zuverlässige Ahnung, was eine Patientin denken und was sie tun wird. Sodann frage ich nach lustigen Alternativen. …
Ab jetzt trage ich fröhliche, bunte Röcke, die ich selber schneidere. …
Ich gründe eine Wohngenossenschaft für Frauen, die im Markt benachteiligt sind. Dort wohne ich selbst und zahle eine Köchin, die für Kinder und Mütter gesunde Mahlzeiten kocht. …
Zur Erholung trete ich bewusst in die Lebensgemeinschaft Wald ein und staune darüber – auch zusammen mit einer Freundin. …
Die oft unmenschliche Entwicklung der digitalisierten Wirtschaft bringt mich dazu, filmen zu lernen.
Mein Ziel: Wissen und Ahnungen vermitteln, wie wir gesteuert und ausgenützt werden. Dabei verlieren wir unsere Kreativität und unser Mitgefühl für andere Lebewesen. …
Mit Siebenundachtzig verschenke ich fast alles und will nur noch sein, bis ich nicht mehr bin.
Alles, was bleibt, sind Umwege
Manuela Bamert (31)
Sie möchte ihm etwas hinterlassen – etwas, das in Erinnerung bleibt. Da sie spürt, dass sie immer schwächer wird und nicht weiss, ob sie die Geburt ihres Enkels noch erleben wird, hat sie beschlossen, ausnahmsweise nichts dem Zufall zu überlassen und ihm einen Brief zu schreiben, den er zu seinem sechzehnten Geburtstag erhalten soll.
Bevor sie den Stift ansetzt, macht sie eine kurze Pause. Sie schliesst ihre Augen und nimmt einen langen, tiefen Atemzug. Als müsste ein Atemzug reichen, um ihm all das zu schreiben, was sie ihm sagen möchte. Als hätte sie nur noch diese eine letzte Möglichkeit dazu.
Lieber mir unbekannter Enkel
Vermutlich wird dein Umfeld in letzter Zeit viel Energie darauf verwendet haben, dir zu erzählen, wie wichtig es ist, die richtige Ausbildung zu wählen. Doch lass mich dir sagen: Es spielt keine Rolle, welche Ausbildung du machst. Es gibt keinen «richtigen» oder «falschen» Weg. Es gibt nur deinen Weg, der allerdings nur entstehen kann, wenn du ihn gehst – und zwar am besten mit möglichst vielen Umwegen. Vorgefertigte Wege lassen sich zwar besonders leicht gehen, doch das ist auf Dauer langweilig. Löse dich von Perfektion und wähle, wann immer du kannst, deiner Neugierde zu folgen. Sie wird dich an unbekannte Orte führen, wenn du sie lässt. Im Leben geht es nicht um Leistung. Niemand wird sich an deine grossartige Abschlussnote erinnern. Nutze deine Energie lieber dafür, Neues auszuprobieren und Fragen zu stellen. Das Leben macht erst dann keinen Spass mehr, wenn es keine Fragen mehr gibt, deren Antwort du nicht kennst.
Das, was wirklich zählt, ist, dass du immer wieder lernst zu spielen. Du fragst dich vielleicht, weshalb du diesen Brief erst heute erhältst. Wäre es nicht besser gewesen, ich hätte dir viel früher gesagt, wie wichtig das Spielen ist? Wie gerne hätte ich das getan. Doch du musstest es vergessen. Wir alle müssen es vergessen, immer wieder. Nur, um es dann immer wieder neu lernen zu können – auf Umwegen. Denn die sind alles, was am Ende von uns bleibt.
In Liebe,
deine dir unbekannte Oma
Stille
Lena Mathis (21)
Es war Frühling
Die Knospen begannen zu spriessen,
als sie zur Welt kam
Sie machte sich sofort bemerkbar
und schrie
Sobald sie krabbeln konnte,
war nichts mehr vor ihr sicher
Es schien
als wäre sie gemacht
Für das Leben
Für diese Welt
Sie schien
Alles aufzusaugen
Alles zu erforschen
Als Kind
Verschwand sie ganze Tage
im Wäldchen,
das sie erkundete
Die Baumwipfel
Die Pilze, das Farn, das Moos
Und nachts das Quaken der Frösche
zogen sie in ihren Bann
Später wurde es zu ihrem Beruf
Das Erforschen der Wälder
Nur schien die Welt, die sie erforschte
zu schrumpfen
All die verschiedenen Arten
die sie so sehr schätzte
wurden weniger
Das Quaken der Frösche
wurde leiser
Sie mochte diese Stille nicht
und sie widmete sich ihr ganzes Leben
Dieser schrumpfenden Welt die sie umgab
Bis auch sie
Teil der Stille wurde.
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