Wer`s glaubt
Hansueli Schürer (70)
1.
„Ich bin schwanger!“ Maria sitzt mit angezogenen Knien auf dem Boden ihrer kleinen Stube und blickt Josef aufmerksam an.
„Schwanger?“ Überrascht unterbricht Josef seine Zeitungslektüre und blickt von seinem Sessel auf Maria hinunter. „Wir haben nie miteinander geschlafen. Wie… Wer…?“ stammelt er hilflos und blickt Maria verlegen an.
„Ich verstehe es auch nicht, Josef. Wie du weisst, bin ich Jungfrau.“
„Warst du beim Arzt?“
„Damit der mich gleich in die Psychi einweist? Eine schwangere Jungfrau! Stell dir das Gespött in den sozialen Medien vor, wenn das bekannt wird.“
„Sagst du es deinen Eltern?“
„Sicher nicht. Die halten mich eh schon für eine Spinnerin wegen unseres Glaubens, der uns Sex vor der Ehe verbietet.“
„Vielleicht müssen wir uns über dieses Gebot hinwegsetzen….“
„Und unser Leben auf einer Lüge aufbauen und unseren Glauben missachten?“
„Was willst du tun?“
„Ich kann und will dich nicht in diese Geschichte hineinziehen, Josef. Ich gehe eine Weile fort.“ Maria steht auf, holt ihre bereits gepackte Reisetasche und winkt ihm zu: „Man sieht sich.“
„Maria! Geh nicht. Ich bin Teil dieser Geschichte. Wenn nicht als Vater, so doch als dein Freund!“ Josef hört nur noch, wie die Türe leise geschlossen wird.
2.
Die Tage, Wochen und Monate vergehen, ohne dass Josef ein Lebenszeichen von Maria erhält. Er vergräbt sich in seine Netflix-Serien und lebt das Leben seiner Helden.
3.
Maria geht es gut. Sie hat in einem Erholungsheim ihrer Glaubensgemeinschaft Unterschlupf gefunden. Sie wird fürsorglich gepflegt und behütet von engelsgleichen Frauen und von der Gesellschaft ferngehalten. Am Heiligabend gebärt sie ihren Sohn.
4.
Weihnachten. Josef hört, wie die Wohnungstür geöffnet wird. Gespannt lauscht er. Er ist zu gleichgültig geworden in seiner Einsamkeit, um sich zu ängstigen. Kindergeschrei. Er spürt, wie sein Herz rast, ihm wird ganz heiss. Seine Schlafzimmertür wird leise geöffnet, und er sieht sie wie eine Erscheinung: Maria und ihr Kind, das ihm seine Händchen entgegen streckt. Maria gibt dem Kind ein Küsschen und sagt: „Da! Schau! Dein Papa liegt noch im Bett in seinem dunklen, stinkenden Zimmer. Und sieht nicht, wie herrlich die Sonne scheint!“ Sie geht auf Josef zu und legt ihm das Kind in die Arme. „Mein Weihnachtsgeschenk! Willst du sein Papa sein?“ Josef herzt das Kind und sagt: „Nein, ich will nicht sein Papa sein.“ Maria erschrickt. „Ich BIN sein Papa!“ Er zieht Maria an sich und küsst abwechselnd sie und das Kind.
Leseglück
Claudia Scherrer (49)
Anna wurde in ihrem Buchladen von einer älteren Dame angesprochen.
„Kennen sie die Geschichte von Romeo und Julia?”
„Von Shakespeare? Ja, selbstverständlich.”
„Nein, ich meine die Kindergeschichte von Justin Hoffner. Sie ist leider seit vielen Jahren vergriffen. Aber sie bedeutet mir sehr viel.“
„Tut mir leid, davon habe ich nie gehört.”
„Würden sie das Buch vielleicht für mich suchen? Ich wohne im Altersheim St. Johann hier um die Ecke und habe keinen Computer.“
Anna überlegte nicht lange, versprach der freundlichen alten Dame, für sie im Internet zu recherchieren und verabredete mit ihr, dass sie in einer Woche wieder vorbeikommen sollte.
Tatsächlich fand Anna innert kurzer Zeit ein gut erhaltenes Exemplar online. Allerdings musste man es persönlich in einem Buchantiquariat der Stadt abholen .
Sie überlegte. Frau Gerber, so hiess die Frau, war noch nicht wieder vorbeigekommen, obwohl inzwischen über zwei Wochen vorüber waren. Ob sie überhaupt in der Lage sein würde, in die Stadt zu fahren?
Spontan entschloss sie sich, das Buch selbst abzuholen und brachte es am nächsten Tag persönlich im Altersheim vorbei. Im St. Johann erklärte ihr die zuständige Diensthabende am Empfang, dass Frau Gerber seit über einer Woche sehr schwach war und das Bett wohl nicht mehr verlassen würde. Obwohl Anna erschrak, liess sie sich von einer Pflegefachfrau zum Zimmer von Frau Gerber führen.
Die alte Frau schlief und sah sehr blass aus.
„Frau Gerber isst nichts mehr und scheint auch nicht mehr viel um sich herum wahrzunehmen“, erklärte ihr die Berufsfrau.
Anna nahm sich zögernd eine Stuhl und begann intuitiv, laut aus dem Buch vorzulesen.
Sie kam von nun an täglich für eine Vorleserunde aus dem berührenden alten Kinderbuch, während Frau Gerber immer schwächer wurde. Am fünften Tag fing die zuständige Pflegende Anna vor der Zimmertüre ab und erklärte ihr, Frau Gerber sei in der Nacht zuvor verstorben. „Sie hatte einen sehr klaren Moment und sagte, ich solle ihnen danken.“
Anna verabschiedete sich. Sie war traurig, obwohl sie Frau Gerber ja nicht wirklich gekannt hatte.
„Sie haben der alten Dame wirklich ein grosses Geschenk gemacht, wissen Sie!“ rief ihr die Pflegefachfrau nach.
Nun lächelte Anna. „Für mich war es aber auch ein Geschenk“, murmelte sie und ging mit ruhigen Schritten in ihren Buchladen zurück.
Ein Geschenk
Telsche Keese (82)
Sie hatten die Tür mit Nachdruck zugezogen, er hörte nur noch schwach ihre Stimmen, nicht einmal die ihm so vertraute Stimme seines Enkels Tim. Dann war nichts mehr. Er dachte an ihn: der kleine Kerl und er beim Kartenspiel. Wie er immer abrupt verstummte, wenn er den «schwarzen Peter» gezogen hatte, aber prustend vor Vergnügen aufsprang, sich den Bauch vor Lachen hielt, hatte Grossvater endlich einmal die gezinkte Karte von ihm gezogen.
Er schüttelte den Kopf. «Aus und vorbei. Das war`s denn wohl. Hier tragen sie mich nur mit den Füssen voran hinaus. Ich wollte nie hierher». Dann gab er den Rädern seines Rollstuhls Schwung und verharrte etwas näher am Fenster.
Unter ihm in der Ferne blitzten Autoscheinwerfer wie Sonnenflecken aus dem Häusermeer. Da hinten war es wohl, wo sie beide kürzlich erst den Garten winterfest gemacht hatten. Dabei hatte Tim von den Dinos erzählt und war am Ende fast übergeschnappt bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn die Riesenechsen tatsächlich einmal über die grosse Stadtbrücke in die Stadt trampeln würden, und die Autos patsch, patsch, der Reihe nach platt machten. Alle würden kreischend davonrennen, ein Höllenspass, und er würde sagen: «Regt euch bloss nicht auf, die kommen nur zum Fressen»!
Solche Momente kämen wohl nicht wieder, durfte er sich einfach nicht mehr vorstellen, seit er die Türklinke verfehlt hatte und gestürzt war. Seine Kinder hatten ruckzuck seine alte Wohnung geräumt. Er hatte allerdings nicht überhört, mit welcher schmallippigen Schärfe sie gesagt hatten: “Es muss sein“.
Mitten im Leben stehen, wie die Jungen eine Aufgabe haben – ging ihm durch den Kopf. Die aber sprachen von Stress und vollen Arbeitstagen, es fehle ständig an Zeit. Wie jetzt zu Weihnachten, da müssten sie endlich ausspannen, nach ihrem Ferienhaus schauen, und Tim solle in die Skischule. Er freue sich.
Er rollte zurück an seinen Tisch. Unter den rotbackigen Äpfeln tief unter Mandarinen entdeckte er im Präsentkorb eine dick verklebte Streichholzschachtel. Er fingerte herum, bis er das endlos klein gefaltete Papier herausziehen und entfalten konnte. «Aha», eine Zeichnung von einem Handy, auf dem Display sauber geschrieben eine Telefonnummer, und darunter: „Bin manchmal traurig, ruf mal an, wenn du willst, ich hab dich bis zum Himmel lieb, dein Dino.“