
Im aktuellen Buchclub:
Alain Claude Sulzer: «Zur falschen Zeit». Roman 2010 (jetzt KiWi Taschenbuch)
Ein längst Erwachsener erinnert sich an eine wichtige Phase seiner Jugendzeit, wo er der Vergangenheit seiner Familie, vor allem des Vaters, den er nie gekannt hat, nachzuspüren begann.
A.C. Sulzer – Schweizer Schriftsteller, bekannt geworden durch «Ein perfekter Kellner» (2004), und bei dem Homosexualität ein Hauptthema darstellt – erzählt zunächst rein aus der Perspektive des damals jungen Mannes, später auch aus der anderer wichtiger Personen.

Die Stimmen aus dem UND Buchclub spiegeln entsprechend mehrere zentrale Aspekte.
Es ist ein Buch über die Zeit und über eine Uhr
Annina Reusser: Stutzig machte den Ich-Erzähler zu Beginn die Uhr auf der einzigen Fotografie von seinem Vater. Stutzig macht ihn die angezeigte Uhrzeit: keine übliche Stunde für einen Fototermin. Diese Details führen ihn dazu, dem Selbstmord seines Vaters nachzugehen. «Zur falschen Zeit» wurde nicht nur das Bild gemacht, zur falschen Zeit hat sein Vater gelebt: einer Zeit, in der er gar nicht leben konnte. Zur falschen Zeit hat seine Mutter darüber gesprochen: als es schon viel zu spät war. Die falsche Zeit auf dem Zifferblatt ist nur der symbolische Ausdruck davon, was alles zur falschen Zeit gekommen ist. Um die Uhr geht es gar nicht.
Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden
Marianne Senn: Der Erzähler wächst in guten familiären Verhältnissen mit seiner Mutter und seinem Stiefvater auf. Er hat bereits als kleines Kind gehört, dass sein Vater kurz nach seiner Geburt gestorben ist. Mit elf Jahren erfährt er, dass es Selbstmord war. Obschon ein Foto in seinem Zimmer steht, interessiert er sich nicht dafür, mehr über seinen Vater zu erfahren. Erst mit siebzehn erwacht sein Interesse. Wer hat das Foto gemacht? Erster Anhaltspunkt ist der Fotograf; ihn will er kennenlernen. Mit dem Erwachsenwerden will er die Geschichte seines Vaters wissen. Vielleicht dadurch auch erkennen, wer er selber ist?
Es ist ein Buch über Homosexualität
Heinz Gfeller: Ein Kernproblem bildet die Homosexualität (unter Männern), in den Fünfzigerjahren. Sie betrifft den Vater (Emil) und im Wesentlichen zwei Partner: der erste ein Jugendfreund, der zweite ein junger Kollege unter Lehrern. Was sich da abgespielt hat und wie Emil mit seiner damals «nicht normalen» Neigung umgegangen ist, wird im Lauf der Erzählung schrittweise aufgedeckt. Freilich ahnen LeserInnen einiges voraus; doch dem Erzähler öffnen sich die Augen nur allmählich. Es entsteht ein bedrückendes Bild einer Zeit, in der Homosexualität verteufelt, für einen durchschnittlichen Lebenslauf gefährlich war. Überdeutlich wird, in wie grosser Not Emil gesteckt hat.
Es ist ein Buch über eine Frau in schwieriger Situation – und übers Nicht-Reden
Annemarie Voss und Elisabeth Wieser: Die Mutter (Veronika) verschweigt dem Sohn den Selbstmord und die Homosexualität seines Vaters. Für sie war dieses Schweigen ein Schutz, auch um ihre Ehe nicht zu erschüttern. Der Sohn hat einen guten Stiefvater – warum soll sie über das Vergangene sprechen. Sicher wollte sie nicht mehr an den erlittenen Schmerz, den Verrat rühren. Was sollte sie denn für Erklärungen abgeben; sie konnte nicht ahnen, wie der Sohn reagieren würde. Dass er dann aus einem Impuls heraus selber auf die Suche geht, hat sie allerdings wohl geahnt.
Eine Mutter, die alles «vergessen» hat, was mit ihrem verstorbenen Mann zusammenhängt? Zutiefst verletzt, will sie ihren Sohn nicht belasten. Sie kann die Vergangenheit nicht zulassen, braucht viel Kraft, aber auch Ausreden, um das, was nicht sein darf, weiterhin zu verdrängen.
Wird der Sohn das Muster des Schweigens durchbrechen können? Wird er den Schmerz seiner tief gedemütigten Mutter verstehen?