Veranstaltungstipp:
Longevity – der Traum vom ewigen Leben
Wann: Dienstag, 28. Januar 2025, 19 Uhr
Wo: Offenes Höchhus, Höchhusweg 17, Steffisburg
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Zunehmende Langlebigkeit verursacht einen «silbernen Tsunami»
Helmut Segner (69)
Das Sterben des Menschen ist in unseren Genen programmiert («Selbstmordprogramm»). Die Frage ist also nicht, ob wir sterben, sondern wie lange es dauert, bis wir sterben. Mit anderen Worten: Wie hoch ist unsere Lebenserwartung? Und genau diese hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen: Lag die durchschnittliche Lebenserwartung der Schweizer Männer 1950 noch bei 66,6 Jahren, so war sie 2021 mit 81,6 Jahren etwa 1,2 mal so hoch. Frauen leben tendenziell länger als Männer; entsprechend stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der Schweizer Frauen von 70,1 Jahren im Jahr 1950 auf 85,7 Jahre im Jahr 2021. Betrachtet man die Entwicklung der Lebensdauer in der Schweiz über die letzten 150 Jahre, so ergibt sich nahezu eine Verdoppelung. Vergleichbare Entwicklungen sind auch in anderen europäischen Ländern und in Nordamerika zu beobachten. Eine Folge dieser zunehmenden Langlebigkeit ist ein «silberner Tsunami»: Erstmals in der Geschichte der Menschheit gibt es heute weltweit mehr Menschen über 64 Jahre als Kinder unter 5 Jahren.

Chronologisches versus biologisches Alter
Die Zunahme an Lebensjahren – das sogenannte «chronologische Alter» – ist eine Sache. Aber: Wie steht es um Gesundheit und Vitalität im Alter? Bedeutet zunehmendes Alter nicht zwangsläufig auch zunehmende Einschränkungen der Lebensqualität? Wenn länger zu leben bedeutet, einfach länger krank zu sein, ist das wohl kaum erstrebenswert. Die Frage ist also: In welchem körperlichen Zustand werden wir alt? Ein Mass dafür, wie gut wir altern, ist das sogenannte «biologische Alter». Biologisches und chronologisches Alter können stark voneinander abweichen. Ein extremes Beispiel für die Diskrepanz zwischen biologischem und chronologischem Alter ist die «eiserne Nonne» Madonna Buder, die mittlerweile über 90 Jahre alt ist, aber immer noch erfolgreich an Triathlon-Rennen teilnimmt.
«Wenn länger zu leben bedeutet, einfach länger krank zu sein, ist das wohl kaum erstrebenswert.»
Helmut Segner
Leider ist das biologische Alter nicht so einfach zu messen wie das Alter in Jahren. Eine Möglichkeit, das biologische Alter zu bestimmen, ist die «epigenetische Uhr». Diese Uhr misst, wie sich chemische Modifikationen unserer Erbsubstanz DNA im Laufe der Zeit verändern und kann damit das biologische Alter bestimmen. Inzwischen sind schon Selbsttests auf dem Markt, mit denen man für ein paar hundert Franken sein biologisches Alter messen kann, um zu erfahren – für diejenigen, die es unbedingt wissen wollen –, ob man biologisch älter, jünger oder gleich alt ist wie die im Pass eingetragene Altersangabe.
Länger und gesünder leben – wie erreiche ich das?
Im Gegensatz zum chronologischen Alter ist das biologische Alter beeinflussbar. Nur etwa 25 Prozent des biologischen Alterungsprozesses sind genetisch bedingt, aber die restlichen 75 Prozent hängen vom individuellen Lebensstil ab. Mit anderen Worten: Mein Verhalten hat einen sehr grossen Einfluss darauf, wie lange ich lebe. Diese Tatsache hat zu einem regelrechten «Hype» um Langlebigkeit oder «longevity» geführt. Die Buchläden sind voll von Ratgebern, wie man durch Anpassung des persönlichen Lebensstils ein längeres Leben erreichen kann. Im Internet findet sich eine verwirrende Vielfalt an Angeboten für lebensverlängernde Nahrungsergänzungsmittel. In Kliniken werden zunehmend Therapien angeboten, die dem Altern entgegenwirken sollen, zum Beispiel Sauerstoffbehandlungen oder Kälteschocks bei -110 Grad Celsius.

Die gute Nachricht dabei ist, dass all diese Massnahmen nicht nur dazu beitragen, länger zu leben, sondern auch helfen, länger gesund zu leben. Eine zunehmende Anzahl von Kerzen auf meiner Geburtstagstorte muss also nicht mehr zwangsläufig mit einer zunehmenden Einschränkung meiner Lebensqualität einhergehen, sondern ich kann auch noch im hohen Alter gesund und vital bleiben. Der Nobelpreisträger Venki Ramakrishnan hat es so formuliert: «Wir sollten darüber nachdenken, das Altern zu heilen».
Inzwischen weiss man auch recht gut, welche Lebensstilfaktoren wie ein «Jungbrunnen» wirken: gesunde Ernährung, Vermeidung von Übergewicht, ausreichend Bewegung/Sport, aktive soziale Kontakte, ausreichende Entspannung/Stressreduktion, positive Altersbilder. Der Einfluss dieser Faktoren auf die Lebensdauer ist zum Teil sehr stark. So hat eine Studie in Nordamerika gezeigt, dass Menschen mit positiven Erwartungen und Einstellungen zum Alter im Durchschnitt 7,5 Jahre länger leben als Menschen mit negativen Vorstellungen.
Langlebigkeit wird zu einem Milliarden-Geschäft
Neben dem vermehrten Wissen darüber, wie persönliches Verhalten den Alterungsprozess beeinflussen kann, haben die Kenntnisse über die biologischen Mechanismen, die dem Altern zugrunde liegen, massiv zugenommen. Das nährt die Hoffnung auf Erfüllung eines alten Menschheitstraums: den Alterungsprozess grundsätzlich aufzuhalten oder gar umzukehren. So hat der japanische Nobelpreisträger Shinya Yamanaka einen Molekülcocktail entwickelt, mit dem sich die epigenetische Uhr zurückdrehen lässt. Im Tierversuch konnte er zeigen, dass die Behandlung alter Mäuse mit diesem Cocktail zu einer Verjüngung ihrer Zellen führte.
«Das nährt die Hoffnung auf Erfüllung eines alten Menschheitstraums: den Alterungsprozess grundsätzlich aufzuhalten oder gar umzukehren.»
Helmut Segner
Einen ähnlichen Effekt erzielte der Schweizer Forscher Tony Wyss-Coray, der an der Stanford University arbeitet: er injizierte alten Mäusen das Blutplasma junger Tiere und stellte fest, dass die alten Tiere danach Lernaufgaben genauso gut meisterten wie ihre jungen Artgenossen. Noch stammen die meisten dieser Erkenntnisse aus Tierversuchen, aber Forscher:innen der kalifornischen Firma Altos Lab ist es kürzlich gelungen, Hautzellen von über 50-jährigen Frauen so zu verändern, dass sie das biologische Alter von 20-jährigen Frauen aufwiesen. Solche Ergebnisse beflügeln natürlich die Fantasie der Biotech-Industrie. Unterstützt durch Milliardeninvestitionen, unter anderem von den üblichen Verdächtigen wie Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Elon Musk, schiessen derzeit neu gegründete Longevity-Firmen wie Pilze aus dem Boden.

Der vielleicht extremste Pionier der Longevity-Szene ist der amerikanische Tech-Tycoon Bryan Johnson. Er ist davon überzeugt, dass die neuen Verjüngungsmethoden nicht nur das Altern aufhalten, sondern letztlich Unsterblichkeit ermöglichen. Er benutzt sich selbst als Versuchskaninchen und will zeigen, dass seine 46 Jahre alten Organe auf ein biologisches Alter von 18 Jahren zurückprogrammiert werden können und dann ewig in diesem Alterszustand bleiben. Um dieses Ziel zu erreichen, unterwirft er sich einem rigorosen Verhaltensprogramm: Er schluckt täglich 111 Pillen mit einer Vielzahl von Nahrungsergänzungsmitteln, nimmt die letzte Mahlzeit des Tages um 11 Uhr morgens ein, geht um 20.30 Uhr zu Bett, und während er schläft, misst ein Sensor an seinem Penis die Anzahl und Dauer seiner Erektionen (als Mass für das sexuelle Alter). Diese Diät wurde von einer Künstlichen Intelligenz entwickelt. Man darf auf das Ergebnis dieses Experiments gespannt sein.
Bisher ging man davon aus, dass das Höchstalter, das ein Mensch unter guten Lebensbedingungen erreichen kann, bei etwa 120 Jahren liegt. Vertreter:innen der «Longevity»-Industrie prophezeien, dass es in Zukunft möglich sein wird, die Lebensspanne auf 150, 200 oder noch mehr Jahre auszudehnen. Wenn diese Prophet:innen recht behalten, wird meine Alterskohorte vielleicht zu der letzten Generation gehören, die noch in dem jugendlichen Alter von 80 Jahren stirbt.

Wie viel Langlebigkeit darf’s denn sein?
Länger leben und dabei gesund bleiben – das klingt zunächst ganz wunderbar. Eine solche Entwicklung wirft aber auch Fragen auf. Wenn es die Möglichkeit gibt, das Altern zu verlängern, darf ich dann noch auf «klassische» Weise altern, einschliesslich der damit verbundenen Krankheiten, und dadurch unnötige Kosten für die Gesellschaft verursachen. Oder bin ich dann verpflichtet, jeden Tag 111 Pillen zu schlucken, um gesund und lange zu leben? Und muss ich dann auch darauf verzichten, nach 11 Uhr morgens noch etwas zu essen? Vielleicht lebe ich dann länger und bleibe länger gesund, aber gewinne ich wirklich an Lebensqualität? Wie geht die Gesellschaft grundsätzlich damit um, dass der Anteil alter Personen dann massiv zunimmt? Schon heute ist «Überalterung» ein eher negativ besetzter Begriff. Es ist auch bei der Frage der Langlebigkeit wie immer: Die technischen Möglichkeiten und die damit einhergehenden Gewinnmöglichkeiten für die Industrie sind das Eine, die Fragen, die sich daraus für die Gesellschaft und den Einzelnen ergeben, sind das Andere.
Das letzte Geheimnis des Lebens?
Anna Zimmermann (17)
Auch heute, im 21. Jahrhundert, wo ein Leben ohne technische Hilfsmittel längst nicht mehr denkbar ist, wo wir täglich von Handy, Laptop und Co. umgeben sind, haben all die intelligenten Technologien vieles erreicht, nur eines (noch) nicht: den Menschen vor dem Tod zu bewahren. Der neuste Hype um Longevity, also dem Streben nach einem möglichst langen Leben, scheint der Menschheit vermitteln zu wollen, dass die durchschnittliche Lebensdauer bald rasant steigen wird.
Auch Künstliche Intelligenz hat sich in den letzten Jahren in der Medizin einen Namen gemacht und ist in der Lage, Krankheiten zu erkennen und bei Therapien zu unterstützen, aber das letzte Wort hat immer noch die menschliche Expertise – wohl nicht ohne Grund. Oder wollen wir unser Leben wirklich Algorithmen und Maschinen anvertrauen? Werden sie in Zukunft dafür sorgen, dass der Mensch deutlich länger lebt? Werden wir die Letzten sein, die jung sterben?

Glücklich sein – im Wissen um die begrenzte Zeit
Die Gründe, die zum Tod führen, sind sehr unterschiedlich. Nicht immer ist der Tod die Folge einer schweren Krankheit oder von Altersbeschwerden. Es scheint mir fast unmöglich, dass in Zukunft KI-gesteuerte Programme
unerwartete Todesursachen verhindern können, um die Lebenszeit der Betroffenen zu verlängern. Da stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller ist, das Leben zu geniessen, egal wie lang es ist. Vielleicht hilft das Wissen um eine begrenzte, nicht verlängerbare Zeit sogar, um glücklich zu sein. Andernfalls verlassen wir uns auf eine künstliche Verzögerung des Alterungsprozesses in der Hoffnung, das nachzuholen, was wir in jungen Jahren versäumt haben.
«Vielleicht hilft das Wissen um eine begrenzte, nicht verlängerbare Zeit sogar, um glücklich zu sein.»
Anna Zimmermann
«Ja, das kann man mit 17 so leicht schreiben, ohne eine Ahnung zu haben, wie es ist, alt zu werden!» Vielleicht denken Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gerade genau das. Und ich bin Ihnen nicht böse, ich weiss, dass ich nur beurteilen kann, wie es ist, jung zu sein. Ich kenne nur diese Seite des Lebens. Wenn ich mir vorstelle, dass ich im Jahr 2090 ungefähr so alt sein werde wie die Generation meiner Grosseltern heute, dann kommt mir das schon sehr surreal vor. 2090, schon fast die Jahrtausendwende! Wie wird die Welt dann wohl aussehen? Trotz aller Ungewissheit möchte ich versuchen, so zu leben, wie es für mich persönlich richtig ist und hoffe, dass ich mir im Alter nicht vorwerfen muss, in jungen Jahren Wichtiges verpasst zu haben.
Privileg der Schweiz
Heute weiss man viel über einen gesunden Lebensstil, unzählige Ratgeber und Bücher befassen sich damit. «Gesund älter werden» ist mehr als eine Modeerscheinung. Es ist eine Motivation, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern. Zum Glück hat in diesem Bereich eine Sensibilisierung stattgefunden. Wir haben es selbst in der Hand, was wir uns Gutes tun. Es geht nicht darum, den natürlichen Alterungsprozess aufzuhalten, sondern ihn durch gesunde Lebensgewohnheiten so angenehm wie möglich zu gestalten. Um diesen Komfort zu ermöglichen, können wir dankbar sein, dass wir in einem Land mit einem hervorragenden Gesundheitssystem leben. Es braucht keinen internationalen Vergleich, ein Blick in unsere Nachbarländer genügt, um das Privileg der Schweiz zu erkennen.
«Es geht nicht darum, den natürlichen Alterungsprozess aufzuhalten, sondern ihn durch gesunde Lebensgewohnheiten so angenehm wie möglich zu gestalten.»
Anna Zimmermann
Die Medizin in unserem Land ermöglicht uns dank moderner Behandlungsmöglichkeiten, Krankheiten so zu behandeln, dass sie nicht zum Tode führen. Oder noch besser: Vorsorgeuntersuchungen durchzuführen, um Krankheiten möglichst zu verhindern. Die Lebenserwartung ist in den letzten Jahrzehnten dank der Kombination von Eigeninitiative, verbesserten Lebensbedingungen und den Möglichkeiten der Medizin stetig gestiegen.
Die Frage der Menschlichkeit
Für mich ist es immer wieder eine Freude, rüstigen und lebenslustigen Rentner:innen zu begegnen. Ich verstehe, dass man die Zeit nach dem Berufsleben körperlich und geistig fit geniessen möchte. Und das nicht nur ein paar Jahre, sondern am liebsten bis ans Lebensende. Der Preis dafür: Zellen verändern lassen, Blutplasma austauschen, sich regelmässig Kältekammern aussetzen und haufenweise Tabletten schlucken. Kann man das noch «genussvoll» nennen, wenn man täglich an irgendwelche Lebensverlängerungsmassnahmen denken muss? Will ich mein Leben «künstlich» verlängern, wenn es doch irgendwann zu Ende geht? Ich kann mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, mich auf Technologien zu verlassen, die die Illusion verbreiten, man könne dem Schicksal entkommen. Steht mit dem Tag der Geburt auch der Tag des Todes fest? Liegt es überhaupt in unserer Macht, über die Länge unseres Lebens zu entscheiden?
«Will ich mein Leben «künstlich» verlängern, wenn es doch irgendwann zu Ende geht?»
Anna Zimmermann
Eine abschliessende Antwort gibt es nicht, jede und jeder muss sie für sich selbst suchen. Möglicherweise bleibt die Suche erfolglos und die Entscheidung, wie und mit welchen Mitteln man alt werden will, muss ohne diese Antwort getroffen werden. Es bleibt also nur ein Weg, um herauszufinden, wie viel technische Unterstützung akzeptabel ist: die Frage nach der Menschlichkeit. Wie weit will ich in den natürlichen Lebensprozess eingreifen? Wann wird es unmenschlich? Verletzlichkeit, Schwäche und Verwundbarkeit gehören für mich zum Menschsein. Diese Werte würden durch das technologisch gesteuerte Altern nach und nach verschwinden. Gesellschaftlich würde die Erwartung geschürt, dass Altersbeschwerden nicht mehr sein dürfen, und das erscheint mir alles andere als menschlich.

Die Ungewissheit bleibt
Sich deshalb den neuen Möglichkeiten der Longevity-Bewegung komplett zu verschliessen, halte ich aber auch nicht für zielführend. Wenn ich vernünftige Entscheidungen treffen will, muss ich mich umfassend informieren und offen für Neues sein. Jede Entwicklung bietet Chancen, und ich bin überzeugt, dass auch die heute noch skurrilen Möglichkeiten der Lebensverlängerung ihre positiven Seiten haben. Wer weiss, ob ich nicht auch auf Tabletten mit Verjüngungseffekt angewiesen sein werde, wenn ich die nächste Jahrtausendwende erleben will.
Vielleicht ist eine solche Pille aber auch obsolet – wenn wir davon ausgehen, dass der Trend der immer älter werdenden Menschen anhält. Dann würde ich im Jahr 2100 93 Jahre alt werden, was der durchschnittlichen Lebenserwartung entspricht. Angesichts dieser beiden Phänomene – des natürlichen Alterns und der Methoden zur künstlichen Lebensverlängerung – ist es gut möglich, dass wir die Letzten sind, die jung sterben, oder zumindest relativ «jung».
Hätten wir eine Kristallkugel und könnten in die Zukunft schauen, wüssten wir, ob sich diese Spekulation bewahrheitet. Aber das Leben wäre nicht das Leben, wenn es keine Ungewissheit gäbe! Und so fragen wir uns weiter:
Werden wir die Letzten sein, die jung sterben?