Als ich vor bald zehn Jahren Gábor Hirsch, den Gründer der Schweizer Kontaktstelle für Holocaustüberlebende, erstmals an einem kalten Dezembertag besucht habe, wurde mir die Wichtigkeit und Unersetzlichkeit von Zeitzeugenberichten bewusst. Der damals schon bald Neunzigjährige hatte mich, Angehörige der «Zweitgeneration», zu sich nach Hause nach Esslingen am Pfannenstil eingeladen. Unser Treffen fiel auf Beginn des achttägigen jüdischen Lichterfests (Chanukka) und so wurde ich mit einer Schale voller selbstgebackener «Beigli», einem typisch ungarischen Chanukka-Süssgebäck, empfangen. Auf dem Tisch lag auch ein Buch mit dem Titel «Als 14-jähriger durch Auschwitz-Birkenau».
Treffpunkt für Zeitzeug:innen
Gábor Hirsch, 1929 in Békéscsaba (Ungarn) geboren, begann wie die meisten Holocaust-Überlebenden erst spät über die Verfolgung und über seinen eigenen Überlebenskampf in Auschwitz zu erzählen, erst nachdem ihn seine erwachsenen Söhne danach gefragt hatten. Als dem ehemaligen Elektroingenieur bewusst wurde, dass er kaum andere Überlebende hierzulande kannte, gründete er 1995 die Kontaktstelle für Holocaustüberlebende. In kürzester Zeit meldeten sich mehrere Hundert Personen und es entstand ein sehr wichtiger Raum für Austausch und Vernetzung. Die hiesigen Holocaustüberlebenden erhielten erstmals eine öffentliche Stimme.
«Ein wichtiges Kapitel Aufarbeitung und Aufklärung droht bald zu Ende zu gehen.»
2006 erklärte sich eine kleine Gruppe der Vereinsmitglieder bereit, als Zeitzeug:innen ihre Geschichte aufzuschreiben. 2011 wurde dann die eindrückliche Memoirenreihe «Mit meiner Vergangenheit lebe ich» abgeschlossen und später im Suhrkamp Verlag herausgegeben. Ebenfalls 2011 wurde der Verein der Kontaktstelle offiziell aufgelöst, da viele Mitglieder bereits gestorben waren und die Kraft zur Vereinsverwaltung nicht mehr vorhanden war. Dennoch finden weiterhin Zeitzeugentreffen statt, allerdings in viel kleinerem Rahmen. Von Jahr zu Jahr schwinden die Kräfte für Schulbesuche, öffentliche Aufritte und Interviews, ein wichtiges Kapitel Aufarbeitung und Aufklärung droht bald zu Ende zu gehen.
Neue Wege fürs Erinnern
Bereits seit vielen Jahren wurden in der Schweiz alternative Wege und Herangehensweisen zum Thema Holocaust gesucht und gefunden. Ausdruck findet dieses vielseitige Engagement beispielsweise in Literatur, Forschung, Kunst wie auch Pädagogik. Nicht wenige der Engagierten sind Nachkommen von Überlebenden. Unabhängig davon bieten heutzutage Schweizer Unis Vorlesungen und Studiengänge mit Schwerpunkt Holocaust und Antisemitismus an. Das Archiv für Zeitgeschichte in Zürich sichert seit Jahren Nachlässe von Holocaustüberlebenden und ermöglicht Workshops, fundierte Archivführungen sowie Treffen zwischen Zeitzeug:innen und Interessierten.
Auch das international erfolgreiche Dialogprojekt «Likrat», das sich unter anderem in Schulen, Institutionen, Behörden, Spitälern und Vereinen engagiert, setzt sich mit Aufklärung und Informationen über Judentum gegen Vorurteile und Antisemitismus ein. Likrat wurde 2002 in der Deutschschweiz gegründet und wird vom SIG (Schweiz. Israelit. Gemeindebund) getragen. 2023 wurde es mit dem renommierten Simon-Wiesenthal-Preis ausgezeichnet. Seit wenigen Jahren haben sich in der Schweiz auch sogenannte Stolpersteinvereine gebildet. Die Mitglieder engagieren sich ehrenamtlich gegen das Vergessen: Mit dem Verlegen von kleinen Gedenktafeln, in Form von quadratischen Messingtafeln, den sogenannten «Stolpersteinen», wird an Menschen mit Schweizbezug erinnert, die während der Nazizeit als Juden und auch Widerstandskämpfer verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Der Künstler Gunter Demnig, Erfinder der Stolpersteine, hat seit 1996 in 31 Staaten Europas über 100’000 Steine zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, verlegt.
Die letzten Stimmen?
Ja und nein: Die wenigen Stimmen von Holocaust-Überlebenden in der Schweiz werden bald verstummen. Sie sind also tatsächlich die Letzten, die als Zeitzeug:innen berichten können, ein unersetzlicher Verlust. Mit Blick in die Zukunft sind sie aber nicht die Letzten, die sich fürs Erinnern und im Kampf gegen Judenhass engagieren. Auch wenn bei der aktuellen Zunahme von weltweitem Antisemitismus gewisse Zweifel über die Wirksamkeit bisheriger Wissensvermittlung angebracht sind, brauchen wir dringend weiteres Engagement. Jetzt erst recht, wo seit dem 7. Oktober 2023, dem grössten Judenmassaker seit dem Holocaust, Antisemitismus und fanatischer Israelhass wieder vielerorts salonfähig geworden sind.
«Die wenigen Stimmen von Holocaust-Überlebenden in der Schweiz werden bald verstummen.»
Diesen August trafen sich einige Holocaustüberlebende in Bern mit Bundesrätin Viola Amherd zum Austausch: Sie bedankten sich bei ihr mit einer Gedenktafel für die damalige Aufnahme in die freie Schweiz und baten sie darum, dass sich die Schweizer Regierung weiterhin dafür einsetzen wird, dass niemals vergessen wird.