Erna ist 92 Jahre alt und lebt schon seit Jahren in dieser schönen Altersresidenz. Es fehlt ihr eigentlich an nichts – aber wer will sich schon Jahr für Jahr in der gleichen Umgebung, im gleichen Zimmer, nutzlos fühlen? Aber heute, am 6. Dezember, liegt ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich frage sie nach dem Grund und sie antwortet, dass sie immer am Nikolaus-Tag an ihn denken müsse. Da Erna oft erstaunliche, spannende Geschichten aus ihrer Vergangenheit hervorholt, bitte ich sie, zu erzählen.
«Ich war etwa vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre alt und hatte ständig das Gefühl, etwas Wunderbares warte diesmal für Weihnachten auf mich. Ich dachte natürlich auch ständig an eine baldige, grosse Liebe – wie das eben so ist in diesem Alter. Da war eine Gruppe junger, fröhlicher Männer, die uns Mädchen von der Töchterschule jeden Donnerstag von der Gewerbeschule her entgegen kam. Vor allem gefiel mir ein junger Mann mit dunklen Locken und schelmischen Augen. Er schien mich auch zu bemerken. Eines Donnerstags – eben am 6. Dezember – löste er sich aus der Gruppe, kam auf mich zu und schenkte mir eine grosse Orange: Ein breites Lachen, blitzende Zähne, eine warme Stimme: «Für dich – aus Spanien, meiner Heimat!» Ich habe die Orange lange gehütet wie einen Schatz und viel geträumt… »

«Und wie ging es weiter?», erkundige ich mich gespannt, «deine erste grosse Liebe, an die du nach so vielen Jahren zur Weihnachtszeit immer noch denkst?»
«Es ging nicht weiter. Es war nur dieses eine Mal, diese eine Orange. Im Moment, als er mir die Frucht reichte, blieb ich still, konnte nicht reagieren. Ich sagte weder danke, noch irgend sonst was. Das hat ihn wohl vergrämt, denn ich habe ihn danach nie mehr so persönlich erlebt. Natürlich, man hat sich gesehen – ab und zu – aber da waren immer andere dabei. Und ein Jahr später, am Nikolaus-Tag, schenkte er meiner besten Freundin eine Orange. Sie stand gleich neben mir. Zuerst dachte ich, es sei ein Irrtum und er wolle die Orange mir geben. Dieses Mal hätte ich sicher antworten können, hätte mich gefreut! Doch es sollte nicht sein. Meine Freundin kannte sich besser aus mit Männern. Sie packte die Chance am Schopf.
Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen und der junge Mann mit der Orange hat meine Freundin geheiratet. Ich war sogar Brautjungfer und blieb ihre beste Freundin. Nie haben wir darüber geredet, dass ich es war, die seine erste Orange erhalten hat. Nie. Die Freundin starb vor ein paar Jahren. Ihn sah ihn zuletzt auf der Beerdigung. Nun, so endet die Geschichte. Wenn du was Romantisches erwartet hast, muss ich dich enttäuschen.»
Erna schaut mich lächelnd an. Ich nicke. Bevor ich etwas sagen kann, kommt eine Pflegerin ins Zimmer. «Frau Haudenschild, möchten sie auch Nüssli und Mandarindli und vielleicht eine Orange?
Der Nikolaus ist da!» Erna bejaht und streckt die Hand aus. Ein sehr alter Nikolaus tritt langsam zur Tür herein und setzt sich neben Erna auf die Bettkante. «Erna, willst du eine Orange aus Spanien?», sagt eine warme Stimme. Die Zähne von Nikolaus blitzen weiss und sein Lachen ist breit.
Sylvia Müller (82) und Elias Rüegsegger (19) haben diese Geschichte gemeinsam geschrieben. Die beiden begannen je mit einer Erzählung und tauschten diese dann aus, um sie fertig zu dichten. So sind zwei halb-halb Geschichten entstanden. Ein Stilbruch lässt sich aber nicht finden – oder doch? Den ersten Teil hat Sylvia geschrieben, den zweiten Elias. Die zweite Geschichte zu Weihnachten von den beiden finden Sie ab dem Weihnachtstag 2013 hier.
Das ist vielleicht sogar eine wahre Geschichte ? Das Leben schreibt solche. Hat zum lächelnden Nachdenken angeregt! merci!