Es war kalt. Eine feine Brise wehte ihr durch die Haare. Sie fröstelte. Als ihre Freundin gesagt hatte, es würde ein warmer Sommertag werden, hatte sie sich etwas Anderes vorgestellt. Baden im See war geplant mit anschliessendem Campen im Wald. Ja, im Wald war sie jetzt, doch wo waren die anderen? Jessie hatte gesagt, sie gehe rasch Feuerholz suchen. Ja rasch… Nun war sie bereits seit einer geschlagenen Stunde verschwunden.
Etwas streifte ihren Arm. Sie erschrak. Zuckte zusammen. Nur ein Ast. Auf der Suche nach Jessie war sie weiter in den Wald gelaufen. Es dunkelte schon langsam ein. Eigentlich sollte sie es besser wissen. Sie wusste doch, dass ihre Orientierung der eines Kleinkindes glich, welches die Mutter im Einkaufszentrum sucht. Sie musste die Lichtung finden, bevor es komplett dunkel wurde. Ihr Handy hatte keinen Empfang. Der Akku war praktisch leer. Wo trieb sich Jessie wohl rum? Vielleicht war sie längst nach Hause gegangen. Alices Füsse schmerzten, hatte sie heute doch nur ihre gelben Ballerinas angezogen, die so gut zu ihrem Sommerkleid passten. Eigentlich war es zu kalt für dieses Kleid – doch auf ihre Mama wollte sie ja nicht hören. Hätte sie jedoch besser. Aber sie wollte unbedingt Dave gefallen, ihrem Schwarm seit der 7. Klasse. Leider war dieser auch nicht wie abgemacht aufgetaucht. Was für ein doofer Tag. Das hatte sie nun davon. Richtig: Nichts.
In welcher Richtung ging die Sonne unter? Süden? Sie wusste es nicht mehr. Einfach geradeaus weiter, irgendwann würde sie schon auf einen Weg gelangen… Oder?
Aufstehen und weitergehen
«Komm schon, Alice, wir machen richtig auf Abenteuer!» «Das wird lustig, Alice» hatte Jessie gesagt. Anfangs eine tolle Idee, doch jetzt? Jessie war schon immer die Abenteuerlustige von beiden gewesen. Kein Fels war ihr zu hoch, nichts zu gefährlich, Hauptsache Adrenalin. Alice hingegen war eher die Ruhige. Sie liebte es, sich in ihre Büchern zu vertiefen und Gitarre zu spielen, bis ihre Finger schmerzten.
Alice stolperte. «Verdammt» fluchte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen. Es war zu dunkel. Sie hielt sich ihren Fuss. «Scheiss Wurzel». «Alice steh auf und geh weiter» redete sie sich selbst zu.
Ein stechender Schmerz durchzog ihren Fuss, als sie versuchte aufzutreten. Erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. Erschöpft liess sie sich zurückfallen. Sie wusste, hier konnte sie nicht bleiben. In dieser Gegend hatte es Wölfe. Sie wusste aus ihren Büchern, dass Tiere Angst riechen konnten. So würde auch ein Wolf einem Mädchen wie ihr, auch wenn ihre Mum sie «junge Dame» zu nennen pflegte, etwas antun.
Horrorszenarien schossen ihr durch den Kopf. Eine blühende Fantasie hatte sie schon immer gehabt, zweifellos.
Etwas tropfte ihr auf den Kopf. Begann es zu regnen? Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn. Das war kein Regen. Die Flüssigkeit fühlte sich warm und klebrig an. Sie schaute auf. Hinter ihr, leicht über sie gebeugt war etwas Haariges… Sie wagte kaum auszuatmen. Ein leises Knurren. Jetzt bloss nicht bewegen. Mit diesem Fuss kam sie keine 10 Meter weit. Sie konzentrierte sich auf eine regelmässige Atmung. Dann ein dumpfer Schlag. Aus. Schwarz. Vollkommene Dunkelheit. War sie jetzt tot? Es spielte wohl keine Rolle mehr. Völlige Leere breitete sich in ihr aus. Ihre Knochen fühlten sich an wie Blei. Augen öffnen, ging das? Sie wagte einen Versuch. Ja tatsächlich, es ging. Sie brauchte eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie befand sich eindeutig noch im Wald. Ihr Herz begann zu rasen. War die Gestalt, was auch immer es war, noch da? Warum war sie nicht gefressen worden? Sie horchte. Kein Knurren. Sie wagte es, sich langsam aufzurichten. Da machte sich noch ein anderer Schmerz bemerkbar. «Shit» fluchte sie leise und fasste sich an die Schulter. Es brannte. An den Fingern hatte sie, trotz der Dunkelheit erkennbar, Blut. Das hatte wohl der harte Schlag verursacht.
Sie startete wieder einen Versuch aufzustehen. Den Fuss versuchte sie nicht zu belasten. Sie biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz in ihrer Schulter. Sie klammerte sich an einem Busch fest, in der Hoffnung, nicht gleich wieder zurück auf die Knie zu sinken.
Singen
Sie wusste, sie musste sich bewegen. In Kanada konnten die Nächte zu dieser Jahreszeit bis zu 10 Grad kühl werden. In ihrem leichten Sommerkleid und mit ihrer Verletzung hätte Alice leicht eine Unterkühlung riskiert. Ausserdem hatte sie das Gefühl, sie sei noch nicht ausser Gefahr. Irgendwo würde diese Gestalt auf sie warten oder zurückkommen. Es war nur eine Frage der Zeit. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie sehr laut und in hohen Tönen schreien konnte. Das würde einen Angreifer womöglich in die Flucht schlagen. Um ihre Stimme zu üben, begann sie laut zu singen; zuerst «Happy Birthday», weil das so vertraut war, dann erfand sie spontan einen Rap: «Go to hell you dirty beast. I am Alice. I am clever. I am the best girl in this world …» Sie steigerte sich richtig hinein in diesen Rap und erfand laufend neue Worte, die ihr selbst Mut machten und die Feinde einschüchtern sollten. Ganz automatisch hüpfte sie auf dem gesunden Bein von Baum zu Baum. Die unheimlichen Geräusche der Waldtiere hörte sie nicht. Ein fahles Licht strahlte ab und zu durch die Blätter. Der Mond war aufgegangen. Ihr Herz pochte nun vor Anstrengung und nicht mehr aus Angst. Sie setzte sich für eine Weile auf einen Baumstrunk um sich auszuruhen. «Manchmal geschehen ja auch Wunder», dachte sie und begann ein Lied über Wunder zu singen.
Ein zweifelhafter Typ
«Schön kannst du singen», sagte plötzlich eine heisere, tiefe Stimme. Sie zuckte zusammen. War das jetzt die Gestalt, die sie geschlagen hatte? «Keine Angst», sagte die Stimme. «Ich tue niemandem etwas.» Nun sah sie eine magere Gestalt hinter einem dicken Baum hervortreten. «Wer sind Sie? Haben Sie mich geschlagen?» krächzte Alice sehr laut. «Ich schlage keine friedlichen Menschen. Ich bin nur in den Wald geflohen, weil mich Polizisten wegen ein paar Gramm Hasch einlochen wollten.» «Wo sind wir?» «Ich kann dir keine Koordinaten angeben und Wanderwege gibt es auch keine. Aber bei Tag findest du problemlos aus dem Wald heraus.» «Ich bin verletzt und friere. Ich will jetzt sofort nach Hause, nicht erst morgen!» «Ich lebe ganz in der Nähe in einer alten Bärenhöhle. Da mache ich ein Feuerchen und gebe dir eine Schmerztablette. Komm mit.» Alice traute dem Typen nicht. Aber was sollte sie tun? Wenn sie ablehnte, wurde er vielleicht wütend und sie war weiterhin allein. «Wollen Sie mich verführen?» Er lachte und sagte: «Es ist doch meistens umgekehrt: Schlaue Frauen verführen die Männer. Aber ich bin schwul. Kein Problem also.» Alice hüpfte zögerlich hinter ihm her. Er schaute zurück. «Hinkst du?» «Mein linker Fuss ist verletzt.» Er trat neben sie und ermunterte sie, sich auf seiner Schulter abzustützen. Er roch nicht angenehm. Sie nahm das Angebot trotzdem an. In der Höhle machte er Feuer und sie sah zum ersten Mal sein Gesicht. Es war eingefallen und bleich. «Ein Drögeler», dachte sie. Er brachte Verbandstoff und verband ihre Schulterwunde. Der Fuss von Alice schien verstaucht und nicht gebrochen zu sein. Die Schmerzpille lehnte sie tapfer ab, denn sie wollte ja keinen unfreiwilligen Rausch. Er stellte sich als Mulla vor, sagte, sie solle ihn duzen. Mulla war dankbar, seine schreckliche Lebensgeschichte endlich wieder einmal jemandem erzählen zu dürfen und nicht allein zu sein. Alice sagte nichts, sondern hörte nur zu, nickte hin und wieder.
Belohnung
Als er zu sprechen aufhörte und zu Boden schaute, begann sie wieder zu singen. Er legte eine schmutzige Decke über ihre Schultern und hörte andächtig zu. Noch nie hatte jemand für ihn gesungen. Nicht einmal seine Mutter. «Hast du ein Handy?», fragte sie dann. «Das geht schon lange nicht mehr. Aber ich führe dich jetzt an den Waldrand, wenn du mir versprichst, niemandem etwas von mir zu sagen. Vielleicht wirst du ja schon gesucht und es hat Polypen mit Hunden im Wald. Mich suchen sie ja auch. Aber ich will nicht gefunden werden.» «Traurig!», sagte Alice spontan. «Ich nenne mich jetzt Mulla, weil mir eine höhere Macht die Kraft gegeben hat, mit allen Drogen aufzuhören. Vielleicht finde ich bald bei einem Bauern Arbeit. In eine Stadt hingegen darf ich nie mehr gehen. Da würden mich die Dealer sofort finden. Komm mit und sing weiter. Bitte-bitte.» Alice musste nur eine Viertelstunde humpeln bis zum Waldrand. Sie sang dazu: «Das Humpeln ist der Alice Frust, das Hu-hum-peln!» Mulla lachte. «Da ist ein Weg. Geh hier rechts, dann kommst du in die Zivilisation.» Sie wünschten einander viel Glück im Leben.
Überraschung
Alice wurde tatsächlich gesucht. Von mehreren Beamten und von FreundInnen. Nach einiger Zeit kam ein helles, schwankendes Licht über den Holperweg auf Alice zu. Sollte sie jetzt wieder singen? Es musste jemand mit einem Fahrrad sein, denn es kam schnell näher. Sie rief «Hilfe!» um sich bemerkbar zu machen. Der Fahrer rief: «Alice!» Sie erkannte diese Stimme sofort. «Dave!» rief sie. Er liess sein Mountainbike fallen und umarmte Alice. Sie hatten beide Tränen in ihren Augen und sie sagte: «Schön, dass gerade du mich findest.» «Ich hatte solche Angst um dich! Geht es dir gut?» Sie erzählte kurz, was geschehen war. Dave erwiderte: «Entschuldige bitte, dass wir dich so lange allein liessen. Wir waren Idioten. Aber jetzt steigst du auf mein Bike und ich renne hinter dir her. Das wollte ich schon lange einmal.» «Du lügst, kleiner Schwindler!» «Steig auf, ich halte dich.» Sie beeilten sich nicht besonders, nachdem Dave telefoniert hatte, dass Alice gefunden war.
In den nächsten Tagen erhielt Alice viele Krankenbesuche. Jessie war neidisch, dass jetzt Alice dank ihrem echten Abenteuer im Mittelpunkt stand und nicht sie. Trotzdem war sie reumütig und schenkte Alice Pralinen sowie einen schönen Kompass! Alice reagierte versöhnlich: «Danke. Ohne deinen Abenteuerfimmel hätte ich vielleicht nie gemerkt, dass ich spontan rappen kann.»
Wer oder was ihr die Schulter verletzt hatte, fand sie nie heraus. Immerhin heilte alles. Alice dankte Dave und insgeheim auch Mulla. Sie merkte sich die Idee, dass lautes Singen und Rappen Ängste bezwingen kann, und begann bald zu üben. ☐
Geschichten übers Kreuz
In der Rubrik «Geschichten übers Kreuz» beginnt ein Tandem zwei Geschichten, die es dann unter sich austauscht und zu Ende schreibt.