
DUNDen: Was zeigt die Entwicklung der Sprache?
Die Ein- und die Vielfalt, die heute so unterschiedlich angeschaut werden – wo kommen die her? «Ein-» und «vielfach» tönen so ähnlich; tatsächlich deckten sich ursprünglich die beiden Formen. Vielfältig war etwas mit vielen Falten. Der Faltenrock hat viele, die Sorgenfalten sind oft viele. «Mannigfach» und «mannigfaltig» stehen noch heute nebeneinander. Die Dreifaltigkeit, der dreifache Gott, hat sich ebenfalls erhalten.
Einfalt bedeutete also Einfachheit im einfachen Sinn, sie stand den grösseren Zahlen gegenüber. Aber sie wurde auch auf Personen bezogen. Was ist nun ein «einfacher Mensch»? Ein einfaches, simples Gemüt? Da ging’s mit der Zeit bergab bis zum heutigen «einfältig»: dumm, beschränkt, bestenfalls naiv. Noch versuchen neue Wörterbücher etwas zu retten: Neben dem «mangelnden Urteilsvermögen» gestehen sie der Einfalt doch Aufrichtigkeit, ja «schlichte, lautere Gesinnung» zu – aber nur in gehobenem Stil. Vorbei die Zeiten, wo man «edle Einfalt, stille Grösse» rühmte. Zwiefach vorbei: Man meinte damit im 18. Jahrhundert die griechische Antike.
Ein einfacher Mensch ist blöd. Die Vielfalt hingegen hat es weit gebracht, steht hoch in Mode. Abwechslung, Diversität, Toleranz, Regenbogen …
Zurück in alte Zeiten. Wir haben in den Volksmärchen – die so viel Wahres verraten, gerade in ihren schematischen Wiederholungen – schöne Belege zum verpönten Wort gefunden. Hier einige Geschichten aus der Sammlung der Brüder Grimm:
«Die drei Federn»: Drei Königssöhne, zwei davon sind gescheit, «der dritte sprach nicht viel, war einfältig und hiess nur der Dummling». Der König stellt den Söhnen drei Aufgaben und bläst jeweils drei Federn in die Luft. Dort, wo die Feder für den Dummling hinfällt, sitzt eine fette Kröte im Untergrund und hilft ihm, die geforderten Geschenke zu beschaffen. So erbt er das Königreich und «herrschte lange in Weisheit».
«Einfalt könnte den Fokus auf das einzig Wesentliche, den jetzigen Moment, verkörpern, nach dem Motto: ‹Werdet wie die Kinder›!»
«Der goldene Vogel» : Drei Königssöhne; dem dritten traut der Vater wenig zu: «Es fehlt ihm am Besten». Er befreundet sich mit einem Fuchs. (Die klugen Brüder hatten versucht, diesen zu töten.) Der Fuchs hilft ihm daraufhin mit unendlicher Geduld aus jeder Patsche heraus, in die er gerät, weil er nicht auf ihn hört. Zuletzt bringt er zum goldenen Vogel noch ein goldenes Pferd und eine Prinzessin nach Hause, kauft seine Brüder vom Galgen frei und erlöst den Fuchs.
In «Die goldene Gans» wird der Jüngste der drei, der Dummling, verachtet und verspottet, zeigt jedoch sein gutes Herz, indem er sein Essen mit einem grauen Männlein teilt. Und gewinnt …
«Die Bienenkönigin» erzählt, wie der Dritte seine Brüder daran hindert, Tiere zu quälen. Mit deren Hilfe wird er das versteinerte Schloss erlösen.
Andersen hat den «Tölpel-Hans» geschrieben. «Niemand zählte diesen dritten mit zu den andern Brüdern.» Aber er wird es sein, der unbefangen vor der Königstochter «seine Worte am besten zu stellen weiss».
Ist Einfalt also eine Stärke?
Es sind nur Märchen. Aber dahinter verbirgt sich einiges. Und wie unterschiedlich man sie interpretieren kann!
Erika stellt fest: Die klugen, eingebildeten Brüder verachten unscheinbare oder hässliche Mitgeschöpfe, worauf sie kläglich scheitern. Dagegen zeichnet den «Dummling» ein grosses Herz für alle Lebewesen aus. Diese Wesen helfen ihm beim Lösen schwierigster Aufgaben. Im «Kleinen Prinzen» von Saint-Exupéry heisst es: «Man sieht nur mit dem Herzen gut». Einfalt könnte den Fokus auf das einzig Wesentliche, den jetzigen Moment, verkörpern, nach dem Motto: «Werdet wie die Kinder»! Klugheit dagegen verzettelt sich; wir verlieren uns in der Vielfalt der Gedanken.
«Der Einfältige handelt ‹ohne viel zu denken›, grübelt nicht; doch er verhält sich unwillkürlich richtig.»
Max Lüthi
Heinz denkt: Wir sind da in einer magischen Welt, die Ideale aufzeigt. Es entsteht immer eine Art Gerechtigkeit zugunsten der Schwachen, Benachteiligten. Das ist moralisch und wohl Wunschdenken; aber hier ist’s in Ordnung, ja selbstverständlich.
Der bekannte Märchenforscher Max Lüthi beleuchtet (in «Es war einmal», 1962) den Märchenhelden – eben den Einfältigen – besonders. Er handle «ohne viel zu denken», grüble nicht; doch er verhalte sich unwillkürlich richtig. Ja, er sei «der Begabte», «Begnadete». Eine höhere Kategorie.
Eine jüngere Freundin schaut die Sache eher psychologisch an: Der Jüngste ist einfach mal jünger, hat noch weniger erfahren; neben den fortgeschrittenen Brüdern muss er erst seine eigene Art finden. Man unterschätzt ihn gern; dafür geniesst er auch eine Narrenfreiheit, die ihm dazu verhilft, einen offeneren Blick zu haben, ja eine Ebene mehr zu erfassen als seine schon festgefahrenen älteren.
«Der jüngere Bruder geniesst eine Narrenfreiheit, die ihm dazu verhilft, eine Ebene mehr zu erfassen als seine schon festgefahrenen Älteren.»
Solche Ideen vertritt auch Rebekka (29). Sie zitiert das englische «Ignorance is bliss», das Glück, nicht zu viel zu wissen. Der einfältige Jüngste schaut die Welt auf seine Art an: unvoreingenommen, nicht immer negativ. In seiner Naivität ist sie ihm vielleicht auch weniger gefährlich, und Handeln fällt ihm leichter als denen, die überinformiert sind und alles komplizieren. Einen sozialen Aspekt kann man zudem entdecken: Der Verachtete, Niedrige wird zum Helden; Standesunterschiede werden umgestürzt.
All das steckt in Volksmärchen. Lest sie (wieder)!