Ich, Selma, 13 Jahre jung, habe jetzt genug von den phantasielosen Geschenken.
Jedes Jahr wieder diese stinklangweiligen Silbergabeln, Silberlöffel, Silberdessertgäbeli und Silbertortenschäufelchen, aber nie ein Beil oder ein Pfadimesser, mit denen ich etwas Neues aus einem Holzklotz schnitzen könnte. Und dann immer wieder dieses sinnlose Zeugs putzen, obschon ich es nie benutzen darf.
Ah, ich habe eine Idee: All den Sachen, die man nur anschauen, aber nicht berühren darf, sagt man doch «Kunst». Und die ist viel wertvoller als alles Besteck zusammen. Darum mache ich aus diesem Mist Kunst! Grossvater hat in seiner Boutique eine grosse, alte Ständerbohrmaschine, einen Schraubstock und viel Werkzeug. Ich weiss, wie er das braucht und habe es auch schon selbst ausprobiert. Superidee: Dieses Jahr schenke ich Kunst zu Weihnachten. Meinem Bruder bastle ich aus dem Schöpflöffel eine Baggerschaufel. Ich verbiege den Stiel so, dass ich eine Achse aus seinem Meccano-Kasten einklemmen kann. Den Bagger darum herum kann er dann selbst zusammenschrauben. «Kunst an der Baumaschine» werde ich das taufen. Der wird Augen machen, wo er mich doch nie mitspielen lässt, dieser Möchtegern-Mechaniker. Und eine Dessertgabel biege ich gerade und drücke die Zacken etwas zusammen, damit mein Vater sie als Pfeifenputzer verwenden kann. Damit das Kunst wird, bohre ich ein Loch in den Griff und stecke eine Vogelfeder hinein.
Das grösste Kunstwerk kreiere ich für Mütterchen: Ein Mobile aus mindestens zwanzig Bestecken, alle individuell gebogen; von der Mondsichel bis zur Spirale liegt alles drin. Im Zentrum hängt die Tortenschaufel.
Darauf klebe ich ein Tortenstück, das ich mit Haarspray so stark einsprühe, dass es nie abbröckeln wird. In alle Bestecke bohre ich Löcher, damit ich sie mit schwarzem Sternfaden an Bambusstäbe hängen kann. So, das wäre geschafft – sieht doch wunderbar aus! Jetzt muss ich Grossvater nur noch dazu bringen, mein Superkunstwerk an Heiligabend über dem Stubentisch aufzuhängen. Zum Glück ist Grossvater so beglückt von meinem Talent, dass er meine Eltern mit diplomatischem Geschick dazu bringen kann, meine überschäumende Phantasie und mein handwerkliches Geschick höher zu bewerten, als meine Respektlosigkeit gegenüber dem Silberzeugs. Darum kriege ich nur einen kleinen Klaps an meine echten Löffel und sehe auf Vaters Gesicht ein süss-saures Lächeln. Weil die Silberspender Götti und Gotte zu Besuch kommen, hängt Grossvater das Mobile erst nach Weihnachten an die Balkondecke. Dort werde es schön klingeln, wenn der Wind blase, sagt er überzeugend.
Nun weiss ich auch, was ich werden will: Überraschungskünstlerin.
Jetzt bin ich zehn Jahre älter und werde ständig gefragt, wie mein Freund so sei. Die nehmen einfach an, jedes Girl brauche einen. Ich bin aber so lebenslustig und emanzipiert, dass ich keinen Macho neben mir brauche, um mich ganz zu fühlen. Zuerst Silberbesteck, dann Freund, dann Hochzeit für fünfzigtausend Stutz und schon geht das Gejammer ums Geld los. Nein, ich benötige meine Kräfte dringend für die ach so unverständliche, moderne Kunst.
Wenn ich meine Kreationen versilbere, kann ich sogar davon leben. Nach Finissagen liegt oft noch ein Gelage mit meinen Freundinnen und Freunden drin.
Eben feiere ich meinen dreiunddreissigsten Geburi. Ohne Tortenschaufel. Dafür mit einem grossen Transparent, das wir in der Künstlerinnen-WG mit Genuss malten.
Darauf steht: «ZEHN JAHRE 68: ENDLICH FLOWERPOWER UND FRAUENPOWER IN DEN BUNDESRAT!»Wir tragen das Transparent skandierend durch die ganze Stadt Bern und spannen es dann zwischen zwei Kandelabern so auf, dass es die Herren Politiker sehen müssen. Wir hätten auch schreiben können: «Ende mit dem kalten Krieg!» Aber wir sind lieber für als gegen etwas.
Drei Jahre später. Ich lebe in Garavicchio, Toscana, und arbeite zusammen mit Niki de Saint Phalle und Jean Tingueli an Figuren des Tarot-Gartens. Hier lerne ich schweissen, betonieren und die riesigen Plastiken mit Mosaiken aus Keramik, Glas und Spiegel belegen. Das verlangt von mir totalen Körpereinsatz. Aber das Projekt ist so grossartig, kühn und lustig, dass ich die Strapazen gerne auf mich nehme. Kunst in der Natur erzeugt in mir abwechselnd Hochspannung und Ruhe.
Dreiundvierzig und immer noch keine Krise. Ist das normal? Was ist schon normal? Wir Menschen sind so verspielte und gwundrige Wesen, dass wir alles erfinden und ausprobieren, was uns möglich ist: Von Sexspielzeug über abstruse Events bis zu schlimmsten Waffen. Wenn wir KünstlerInnen in diesem Trubel noch einen Platz ergattern wollen, müssen wir Effekthascherei auf höchstem Niveau betreiben. Oder uns um alles foutieren und nur das kreieren, was uns selbst als sinnvoll erscheint. Wenn wir Glück haben, gibt es einzelne intelligente und offene Menschen, die uns etwas abkaufen. Ich gehe diesen zweiten Weg und modelliere grosse, menschliche Köpfe.
Ausdruck und Farbe sind auf der linken Gesichtshälfte anders als rechts. In der Mitte finden sie aber zusammen. Je nach Blickwinkel kann die Betrachterin, der Betrachter verschiedene Seelenzustände wahrnehmen oder auch eigene Gefühle hineinprojizieren. Materie, Seele und Kommunikation kann ich so vereint darstellen.
Jetzt, mit dreiundfünfzig Jahren, lebe ich in Thailand. Hier ist es schön warm, die Menschen sind freundlich und ein grosses Atelier ist für mich erschwinglich.
Ich gestalte grosse Plastiken aus Abfällen, die hier an Land gespült werden.
Die menschliche Gier nach Materiellem und die Rücksichtslosigkeit gegenüber den meisten Lebewesen beschäftigen mich sehr. Das versuche ich nun darzustellen.
Morgen beginnt das dritte Jahrtausend und viele fürchten sich vor dem Weltuntergang, nur weil die Computer um eine Sekunde falsch ticken. Mit einem zehn Meter hohen Pendel, an welches sich ein Affe klammert, demonstriere ich, dass die Zeit immer weitergehen wird. Egal, ob wir sie in Millisekunden messen und uns dabei gross vorkommen – oder nicht: Die Zeit wird ein Teil der Natur bleiben, auf die wir angewiesen sind. Die virtuelle Welt der Computer wird uns nie ernähren.
Vor einem halben Jahrhundert war ich dreizehn Jahre alt. Was passierte seither mit mir? Ich wurde technisiert und globalisiert, ob ich wollte oder nicht. Darum befasste ich mich auch mit Videokunst, kam aber bald wieder zur direkten Arbeit mit meinen Händen an Materialien zurück. Zu viele Apparätchen zwischen mir und meinem Werk führen mich zu Kopflastigkeit. Mir ist jetzt klar: Intuition ist meine wichtigste Gestaltungskraft.
Darum gestalte ich Figuren und Bilder, die von innen heraus leuchten, als Gegenpol zu all der hektischen Äusserlichkeit unserer Zivilisation. Vielleicht spürte ich das schon vor fünfzig Jahren, als ich das Statussymbol Silberbesteck hasste und mein Selbst zu befreien versuchte. Die mehrere Meter hohe Gabel, die im Lac Léman steckt, erinnert mich heute daran und zaubert ein Lächeln auf mein Antlitz.
Heute sei mein dreiundsiebzigster Geburtstag, zeigt mein Kalender. Ich finde das bedeutungslos, denn manchmal lache ich über jeden Blödsinn wie ein Kind und manchmal bilde ich mir ein, an der Glace der Weisheit geleckt zu haben. Früher hätte ich vielleicht eine Performance aus diesen Empfindungswechseln veranstaltet. Heute suche ich lediglich das bewusst spürbare Dasein. Zum Beispiel im Wald – hier fühle ich mich geborgen. Eine Freundin hat das in einer Doppelplastik schön dargestellt.
Als Künstlerin leben dürfen, bleibt für mich ein Privileg. Silberbesteck sei Dank.