Wie in einem Bienenstock schwirren die KöchInnen übers Bild. Es wird geschnitten, geschrien und gekokst. Mit Spannung und Mitgefühl verfolgt der Kurzfilm «Cru» das Schicksal einer jungen Frau, die sich im Trubel einer Restaurantküche durchzubeissen versucht, bis sie ihre Herzensanliegen realisieren kann. «Cru», roh, ist der Gewinner des Student Visionary Award des Tribeca Film Festival 2020. Sein Macher, der junge Regisseur David Oesch, sitzt am Mittwochabend, 19. August 2020, mitten im Publikum und fiebert mit. «Am nervösesten bin ich immer, wenn meine Eltern zuschauen. Heute fühlt es sich an wie ein Dorffest, alle sind gekommen – das ist echt überwältigend!» Mit 143 verkauften Plätzen ist der Kino Rex Thun zu hundert Prozent coronatauglich ausgebucht – jeweils mit einem Sitz Abstand.
Am schönsten ist es für einen Regisseur, wenn er den Film mit Publikum schauen kann.
David Oesch
Alain Marti, Geschäftsleiter des Kinos, ist sich bewusst, dass Kurzfilme wie die von David Oesch ein Nischenprodukt sind: «Es ist wirklich speziell, in dieser Zeit ein solches Event durchzuführen. Planungsunsicherheiten und allen Risiken zum Trotz: Es ist grossartig, dass so viele da sind! Die Leute kommen wegen David, seine Filme sind aber auch echt gut!» Vier seiner Kreationen werden den BesucherInnen vorgeführt. Nach dem spannungsvollen Küchendrama «Cru» taucht das Publikum ein in die pastellfarbene Welt Ugagos. Hier führte der junge Thuner Regie zusammen mit Ennio Ruschetti. In «Human resources of Ugago» kämpft der Quotenmensch Dave gegen seine übermotivierten robotischen MitarbeiterInnen. Der vermeintliche Held und seine existenziellen Ängste regen zum Nachdenken an.

«Zeigt der Film eine Dystopie (Gegenstück zur positiven Utopie) oder was steckt dahinter?», will Elias Rüegsegger in der darauffolgenden Fragerunde wissen. Eine genaue Antwort kann ihm der Regisseur nicht geben. Er liebe es, wenn die ZuschauerInnen den Film selber interpretieren und von den Szenen mehr herausnehmen, als er beim Schreiben hineingesteckt habe. «Es ist wahnsinnig toll zu sehen, dass unsere Kurzfilme aus den verschiedensten Gründen durch die verschiedensten Länder reisen», so Oesch. Die Filmindustrie ist eine Welt, die viele nur oberflächlich kennen. Das Publikum in Thun zeigt sich wissbegierig. 150 Leute hatten beim Kurzfilm «Human resources of Ugago» mitgearbeitet. Ein halbes Jahr dauerten die Arbeiten des Chef-Animators Robin Disch an «Human resources of Ugago». Beide Filme entstanden an der Zürcher Hochschule der Künste. Solche Zahlen und Fakten erstaunen, die Resultate lassen sich sehen!
«Er ist so jung und schon so international», schwärmt auch die Organisatorin des Abends, Barbara Tschopp. Zweieinhalb Monate sei sie am Vorbereiten gewesen, wollte den Anlass so perfekt durchführen wie möglich – was ihr und ihren HelferInnen sichtlich gelang. «Wie ein Junkie sass ich vor dem Bildschirm und habe geschaut, ob sich die Tickets verkaufen. Die Filme von David sind so gut! Ein junger Mann zeigt mit vier Filmen eine Welt, die viele so nicht kennen.» Angst, dass der Anlass nicht gut ankommen würde, hatte sie nie. Der ausverkaufte Saal gibt ihr recht!

Zurück zu den Wurzeln
In der zweiten Hälfte des Anlasses wird es regional. Aufgewachsen ist David Oesch in Goldiwil, dort hatte er auch seine ersten filmischen Erfahrungen gemacht. «Da bin ich noch mit dem Nachbarsjungen und der Kamera durchs Feld gerannt. Es bedeutet mir viel, heute die stolzen Gesichter zu sehen, von denen, die mich schon damals begleitet hatten.» Mit «Stadt der Falten» schuf der Filmstudent ein Werk, welches den ThunerInnen ans Herz geht. Als Exil-Thuner schrieb er mit Remo Rickenbacher einen Essay über Thun, das Tor zum Berner Oberland, das an Minderwertigkeitskomplexen leidet. Immer wieder tauchen Aufnahmen von UND-Mitgliedern auf, die bereits vor vier Jahren die Freude hatten, mit David Oesch zu arbeiten. Viele von ihnen sitzen auch heute Abend im Publikum. Den krönenden Abschluss bildet der vierte Kurzfilm «Tote Tiere». Die zwischen Tierkadaverstelle und Schloss Schadau gedrehte Geschichte begleitet den Komiker Matto Kämpf und sein verstorbenes Büsi. Rund um den Globus fand der Film ein begeistertes Publikum, unter anderem am Filmfestival in Bogotá, Kolumbien, wo er mit dem Best Fantastic Short Film ausgezeichnet wurde.

Nach lustigen, wie auch verstörenden zehn Minuten findet so auch der letzte Film des heutigen Abends sein Ende. Beim anschliessenden Apéro ist die Stimmung belebt. Die verschiedensten Eindrücke der vier Filme werden bei Weisswein und Popcorn verarbeitet. Die Lieblinge des Publikums reichen vom jüngsten preisgekrönten «Cru» bis hin zum altbekannten «Stadt der Falten». David Oesch kommt nicht mehr aus dem Diskutieren raus, der Abend macht allen Beteiligten Lust auf mehr! Um 23 Uhr verlässt der junge Regisseur als Letzter den Kinosaal. Mit viel Vorfreude erzählt er von seinem neusten Projekt. Es soll ein Spielfilm werden des Genres «Bünzlihumor», geschrieben von ihm und Remo Rickenbacher. Eine Geschichte über Alltagslügen und den Horror vor Waschplänen in Waschküchen von Mietwohnungen. So viel verrät er uns schon. Wir bleiben gespannt!

Stadt der Falten zum Nachsehen
Der Regisseur im Interview
Eine Woche nach dem von UND-Generationentandem organisierten Film- und Diskussionsabend gab die Stadt Thun bekannt, dass David Oesch den Kulturförderpreis 2020 erhielt. «David Oeschs Kurzfilme sind sowohl inhaltlich als auch formal von einer bestechender Brillanz. Erwähnenswert ist die Kombination von gesellschaftlich relevantem Inhalt, handwerklicher Präzision und erzählerischem Talent», begründete die Jury ihre Entscheidung.
«Klar bin ich ein Feminist, aber der Film ist eher Klassenkampf als Feminismus. Als ich ‹Parasite› (Red: Südkoreanischer Oscargewinner 2019) gesehen habe, wusste ich, genau so etwas will ich machen. Für den ‹Cru›-Schnitt habe ich dort einiges abgeguckt.»
Im Vorfeld trafen sich Barbara Tschopp und David Oesch. Die Autorin und der Regisseur begegneten sich schon an früheren Anlässen. Vor der jetzigen Veranstaltung zur Feier seiner Erfolge interviewte sie ihn in Zürich.