Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer (1917)
Heinz Gfeller (73)

In dieser längeren Erzählung berichtet einer, der beteiligt war, über dieses riesige Unternehmen und denkt über dessen Hintergründe nach. Vieles kommt spekulativ daher, besonders was die «Führerschaft», was den fernen Kaiser betrifft.
Kafka aus Prag ist nicht weit herumgekommen, schon gar nicht nach China. Die Mauer wird er aus Abbildungen sowie historischen Berichten gekannt haben; doch hat das Werk mit seinen fast «jenseitigen» Dimensionen oder der Kaiserpalast in Peking ihn offensichtlich angeregt. Wir werden das nicht als Darstellung realer Chinesen, sondern metaphorisch (bildhaft) lesen. Vielleicht will ich im (abwesenden) Kaiser Gott erkennen. Aber andere Deutungen, etwa psychologische oder politische, sind gut denkbar. Die Geschichte stimmt historisch nicht – aber ihren Kern werden wir möglicherweise «wahr» finden.
Hermann Hesse: Siddhartha (1922)
Noah Werder (22)

Hesse erzählt die Geschichte Buddhas. Er folgt Siddharthas Leben und erzählt dabei viel von seinem Innenleben.
Ich stelle mir die Frage, was denn an Büchern wahr sein kann: Ist es die Geschichte? Oder sind es einzelne Ideen oder Ansichten über das Leben? Es scheint mir gar nicht so einfach festzulegen, was wahr sein soll. Für mich ist es nicht so wichtig, ob sich die Geschichte tatsächlich so ereignet hat. Und im Fall meines Buches ist klar, dass das Erzählte keinen Wahrheitsanspruch haben kann. Wie sollte Hesse wissen können, wie sich Buddha gefühlt hat? Aber anderes an diesem Buch scheint trotzdem das Verständnis für die Welt und einen selbst zu fördern – einen wahren Kern zu haben: Ideen des Buddhismus werden in diese «unwahre» Geschichte verpackt und den Lesenden verständlich gemacht. Mit diesen Ideen erhält man neue Perspektiven darüber, was der Sinn des Lebens, was ein gutes Leben sein und wonach jemand streben könnte. Darüber lohnt es sich nachzudenken und seinen eigenen Weg zu finden. Darum geht es mir beim Lesen.
Agatha Christie: Mord im Orient-Express (1934)
Laura Strub (24)

Ein Detektiv, ein Toter und zehn Verdächtige in einem Zug irgendwo im Nirgendwo – der Mord im Orient-Express konfrontiert die Lesenden mit der moralischen Gratwanderung zwischen Recht und Gerechtigkeit.
Den Orient-Express gibt es, die hohen Preise für eine Fahrt belegen das. Hercule Poirot, der Meisterdetektiv? Eine Romanfigur einer einfallsreichen Autorin. Den Mord gab es auch nicht. Alles erstunken und erlogen. Und doch packt uns diese Lüge, wir wollen sie entwirren und verstehen. Aber Morde gab es schon viele, wieso wollen sich manche Lesende wie ich solche Verbrechen auch noch in der Belletristik antun? Das mag viele Gründe haben, der wichtigste für mich ist die Frage der Gerechtigkeit. Denn das Recht sollte immer auf der Wahrheit basieren, doch oft wird sie dann der Gerechtigkeit nicht gerecht. Kann also eine Lüge manchmal gerechter sein als die Wahrheit?
Christa Wolf: Der geteilte Himmel (1963)
Anna Frey (20)

Die Geschichte findet in der Nachkriegszeit in einer östlichen deutschen Stadt (vermutlich Halle) statt. Rita kommt zur Lehrerinnen-Ausbildung in die Stadt. Dort lebt sie mit ihrem Verlobten Manfred, einem erfolgreichen Chemiker. Ritas Ausbildung, die Beziehung zu Manfred und ihre Arbeit in einem Waggonbauwerk stehen im Mittelpunkt und vermitteln die Spannungen der Gesellschaft. Manfred ist anfangs zufrieden mit der DDR, kann aber seine Erfindungen nicht vorantreiben und geht aus Frust nach Westberlin. Rita besucht ihn, kehrt aber zurück – danach wird die Mauer gebaut.
«Der geteilte Himmel» ist eine fiktive Geschichte. Somit habe ich keine direkte Anforderung an das Buch, «wahr» zu sein. Dennoch sollten Fakten und Stimmungen mit dem historischen Geschehen übereinstimmen, damit das Ganze realistisch ist. Für mich wären das «Wahre» an der Geschichte die Stimmung und die Schicksalsschläge der Charaktere. Christa Wolf hat selber in Ostdeutschland gelebt und kennt die Spannungen dieser Zeit. Somit weiss sie, über was sie schreibt; darum glaube ich ihr.
Bernhard Schlink: Der Vorleser (1995)
Annemarie Voss (77)

Der Erzähler trifft als Jus-Student im Gerichtssaal auf eine Frau, die er von früher kennt und die für Verbrechen in der Nazizeit angeklagt ist; dahinter steckt ein fatales Geheimnis: Die Frau kann nicht lesen.
«Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht.» So beginnt die Geschichte. Das Alter passt zum Autor, die Gelbsucht lässt sich nicht überprüfen. Das Bild, das Schlink von Deutschland in der Nachkriegszeit zeichnet, ist stimmig, seine leidenschaftliche Beziehung zu einer wesentlich älteren Frau nachvollziehbar. Der junge Mann studiert später Jura, Schlink ist Jurist. Aufgewachsen ist er in Heidelberg; die Stadt, in der der Roman spielt, könnte Heidelberg sein.
Das weist alles auf eine wahre Geschichte hin. Jedenfalls der Hintergrund ist realistisch; ob es die Beziehung zwischen Michael und Hannah ebenfalls ist, spielt für mich keine Rolle. Wie die dargestellten Personen handeln, fühlen, was sie verheimlichen und wovor sie weglaufen, erscheint mir echt. Wahr muss es nicht sein, aber ganz sicher ist es nicht unwahrscheinlich, und das reicht mir.
Meredith May: Der Honigbus (2019)
Hanna Peter (77)

Meredith May ist selber Imkerin und beschreibt einen Familienverbund verglichen mit einem Bienenvolk. Der Honigbus enthält Lebensgeschichten, die von Bienen ihres Grossvaters erzählen und die für sie die Rettung aus einer schwierigen Kindheit bedeuten. Was er gut und bewundernswert im Leben der Bienen fand, übersetzte der Grossvater in einen Moralkodex: das Leben anzunehmen, wie es ist, und es nicht zurückzuweisen.
Als Beispiel der Titel zum Kapitel: Eine Bienenlektion in Freundschaft oder Eine Bienenlektion in Entscheidungsfindung.
Die Bienengeschichten ordne ich ganz in Wahrheit ein, denn die Tiere im allgemeinen machen uns nichts vor. Wo hingegen bei Menschengeschichten viel interpretiert wird, verschönert, verschlechtert, damit der Roman spannend und lesenswert wird.
Barbara Bonhage: Gnadenlos geirrt (2021)
Lena Mathis (21)

Die Historikerin Barbara Bonhage findet tausend Briefe ihrer Grossmutter Hilde. Diese war eine Nazi und machte in der Frauenorganisation der NSDAP Karriere. Bonhage geht dem Leben ihrer Grossmutter auf die Spur und rekonstruiert deren Werdegang mit Hilfe der gefundenen Briefe.
Bonhage konfrontiert sich mit der Wahrheit ihrer Familiengeschichte – lange wusste sie nur sehr wenig über ihre Grossmutter. Während uns beim Lesen eines Romanes klar ist, dass die Personen darin nicht wahrhaftig existieren, wird einem in diesem Buch immer wieder verdeutlicht, dass Hilde wirklich gelebt hat. Immer wieder stossen wir auf ihre Zitate, auf alte Bilder oder auf Kopien ihrer Briefe.
Von den Runden Tischen
Wir lesen gern – ganz unterschiedliche Bücher. Oft aber fragen wir uns: Ist das alles möglich? – Soll ich das glauben? Wir versuchen also, den Wahrheitsgehalt des Gelesenen zu prüfen.
Etwas zu lesen ist nicht dasselbe wie es zu hören, meint Lena. Annemarie bestätigt: Begabte ErzählerInnen behandeln ihre Geschichten mit einer gewissen Freiheit, nicht jedesmal gleich, sie ändern, schmücken aus. Doch sie überzeugen uns – indem sie viel Unterhaltungswert bieten.
Ähnliche Kriterien lassen sich doch auch bei Gedrucktem anwenden. Schreiben, finden wir, ist etwas besonders Herausforderndes. Wir bewundern SchriftstellerInnen dafür, wie sie Dinge in allen Einzelheiten darstellen. Dann wiederum fragen wir manchmal, ob all die Details nötig sind. Will ich so genau wissen, wie die Umgebung, Natur, Wetter aussehen? Oder nur bei den «guten AutorInnen»? So viele Wörter wie nötig, so wenige wie möglich, könnte nach Noah ein Qualitätsmerkmal heissen.
«Begabte ErzählerInnen behandeln ihre Geschichte mit einer gewissen Freiheit, nicht jedesmal gleich, sien ändern, schmücken aus. Doch sie überzeugen uns – in dem sie viel Unterhaltungswert bieten.»
Annemarie Voss
Geschichten kommen mehr oder weniger wahrscheinlich daher. (Alex Capus in einem neuen Roman: «Eine Geschichte muss nicht wahr sein, sie muss nur stimmen.») Guten AutorInnen nehmen wir sie offenbar ab. Wir schwanken zwischen: Eigentlich ist’s mir egal, ob die Geschichte stimmt – und dem Wunsch zu wissen, ob sie nachprüfbar, belegbar sei. Einiges können wir aus eigener Erfahrung beurteilen; so sagt Annemarie zu ihrem Roman, sie wisse, wie etliche Analphabeten ticken. Andere Aspekte hingegen muss sie googeln.
Die populäre Hera Lind – Hanna nennt sie – lässt immer ankündigen: «Roman nach einer wahren Geschichte». Dies soll sie wohl legitimieren. Noch komplizierter: Ein neuer «Roman» von Lara Prescott preist sich so an: «Die wahre Geschichte hinter … Doktor Schiwago» (von Boris Pasternak – das Buch hat zweifellos einige autobiografische Bezüge). Interessiert uns das? Lena ihrerseits meint, bei einem Roman gehe sie häufig davon aus, dass «er nicht wahr sei».
«Wenn Personen im Vordergrund erscheinen, möchte ich lebendige, komplette Menschen mit Makeln sehen, nicht zu gute noch zu böse.»
Noah Werder
Nun entstehen namentlich historische Romane oft so, dass nachweisbare historische Fakten, auch Personen den Hintergrund abgeben, während die zentrale Handlung erfunden ist – oder zumindest die Details, etwa die Gespräche, die ja niemand aufgezeichnet hat, oder gar die Gedanken der Figuren. Gedanken vielleicht, die nie ausgesprochen würden.
Worum geht es uns LeserInnen? Lena sagt: Wir möchten nicht nur von einer allgemeinen Weltlage erfahren, sondern dahinter schauen. Und Noah: Kernideen sind wichtig; interessant ist, was mir ein Verständnis für die Welt vermittelt. Ein Zeitbild, das vorgeführt wird, soll authentisch wirken. Demnach doch Details? Wenn Personen im Vordergrund erscheinen, möchte ich lebendige, komplette Menschen mit Makeln sehen, nicht zu gute noch zu böse. Menschen haben viele Facetten – und Romane sollen mehrdeutig sein.

Interessante AutorInnen, meint Anna, erwarten von der Leserschaft eine Reaktion. Keine direkte, aber ein Mitdenken, Eingehen auf Themen, die sie aufwerfen – ohne gerade belehren zu wollen. Wenn wir in ein Buch «hineininterpretieren» können, ist das gut. Es geht allerdings auch ohne…
Was wir im Alltag wahrnehmen, ist nie eindeutig, ja eher Illusion, findet Hanna. Verschiedene Leute sehen dasselbe unterschiedlich. Da brauchen wir Bilder, um uns mitzuteilen. Solche finden wir in Büchern – die sich nicht auf Fakten reduzieren lassen.
Was ist «wahr» – oder «stimmt»? Nur das, was belegbar ist? Heinz möchte darüber hinaus gehen. Ich reagiere auf Geschichten, die mir zusagen, oft mit: Ja, so ist das Leben. Da entspricht mir die Weltsicht der Autorin, des Autors, und ich halte sie – subjektiv, natürlich – für wahr. Solches gilt dann auch für Literatur, die nicht vorweg realistisch wirken will, für fantastische oder utopische etwa.
«Abschalten, mal nicht übers Leben nachdenken. Bei einem Stephen King etwas sage ich mir: Es ist so – in diesem Buch.»
Laura Strub
Wie steht Literatur zu unserem Alltag? Anna berichtet von einer Kollegin, die keine Romane mehr lesen, sondern nur Fakten haben will. Laura findet demgegenüber, sie bekomme – im Studium und mit der Aktualität – genug Fakten; darum sucht sie gern beim freien Lesen anderes: Abschalten, mal nicht übers Leben nachdenken. Bei einem Stephen King etwa sagt sie sich: «Es ist so – in diesem Buch» und lässt auch Unglaubliches gelten. In den Kriminalromanen, die sie schätzt, sieht sie allerdings, über spannende Unterhaltung hinaus, wichtige Bezüge zur Wahrheits-Frage. Zunächst sind Straftaten oft mit Lügen verbunden. Und der Roman fordert von uns, wie vom Gericht, herauszufinden, wo die Wahrheit liegt. Das Strafrecht, welches Laura studiert hat, packt das theoretisch an; doch in den konkreten Fällen erscheint Wahrheit nur schwammig, undurchsichtig. Auch LeserInnen müssen unterwegs ihre Ansichten revidieren. Strafrecht ist nicht Wahrheit.
«Die Wahrheit der Lügen» nach Mario Vargas Llosa (1990)

Bedenkenswerte Ideen zum Thema liefert der peruanische Schriftsteller im so betitelten Buch – worin der sehr Belesene berühmte Werke des 20. Jahrhunderts kommentiert. Nach ihm lügt alle Literatur; sie ist Fiktion, im Gegensatz zur Geschichtsschreibung. Aber sie ist wichtig, weil sie uns Welten auftut, uns ermöglicht, alternative Leben zu leben, frei zu werden. Literatur hat ihre eigene Wahrheit. Nicht umsonst werden in autoritären Systemen sowohl Literatur wie Geschichte kontrolliert und manipuliert.