
Das Wasser lebt, im Wasser lebt’s – nicht nur Fische; nein, auch den Menschen ähnliche oder höhere Wesen. In älteren Kulturen herrschten sogar Gottheiten im Meer, in Flüssen. Den «alten Griechen», selbst ihren Helden stand es schlecht an, sich mit Poseidon (dem Neptun der Römer) anzulegen. Daneben aber wimmelte es von Wassermännern und -frauen, von Nymphen, Najaden, Nereiden …
Ein Muster scheinen uns die Sirenen vorzugeben, diese mit Aussehen und Gesang betörenden Inselbewohnerinnen, welche die Seefahrer um Verstand und Leben brachten.
Was berichten die Volkserzählungen, die Sagen unserer Gegenden, wie sie etwa die Brüder Grimm gesammelt haben? Die Nixe, aber ebenso der männliche Nix mischten sich unters Volk, oft kaum zu unterscheiden, höchstens durch einen nassen Kleidersaum, bei ihrem Einkauf auf dem Markt. Beide stellten allerdings viel Unheil an, zogen Verführte oder Badende in die Tiefe. Diese wiederum erschien nicht immer tödlich, sondern manchmal idyllisch: ein gewöhnliches Dorf oder ein Palast unter Wasser.
Im deutschen Sagenschatz ragt die Loreley heraus, angesiedelt auf ihrem gefährlichen Felsen am Rhein – eine Tochter des Rheins vielleicht, eine langhaarige, singende Schönheit und das Verhängnis für die abgelenkten Schiffer, eine Hexe?

Französische Sagen: Melusine
Die ältesten schriftlichen Überlieferungen stammen aus dem 12. Jahrhundert. Melusine wird als schöne Frau beschrieben, die ihrem Gatten Raymond Reichtum, Glück und viele Kinder schenkt, solange sich dieser an die einzige zwischen ihnen verabredete Bedingung hält. Die besagt, dass er sie zu bestimmten Zeiten, an denen sie ihre wahre (nicht-menschliche) Gestalt annimmt, nicht ansehen darf. Denn sie ist in Wahrheit eine Wasserfee, dargestellt mit einem Schlangenleib oder Fischschwanz. Als Raymond das Tabu bricht, verschwindet Melusine für immer, und mit ihr Ansehen und Glück des Ritters Raymond.
Auffallend an dieser Sage ist, dass die eingegangene «Mahrtenehe» (Verbindung zwischen Mensch und überirdischem Wesen) zwischen Melusine und Raymond mit gewissen Rechten und Pflichten verbunden ist; sie begegnen sich dabei ebenbürtig. Da sich Raymond nicht an die Vorgaben von Melusine hielt, stürzte er sich in sein eigenes Verderben, im Gegensatz zu anderen Sagen mit Nixen oder Sirenen, die Männer anlocken, um sie danach umzubringen.
Das Dämonische wurde ab dem späten Mittelalter immer stärker durch christliche Tugenden ersetzt. Melusine bekam positivere, weniger heidnische Züge und erschien nicht als Männer verführende «Femme fatale». Melusine war nun vor allem Mutter. Die bekanntesten literarischen Fassungen des Stoffs stammen aus dem späten Mittelalter. Nennenswert sind der Roman in Prosa «Le livre de Mélusine» von Jean d’Arras (1393) oder der Versroman von Couldrette (1400).
Aus der Donau im Schwabenland
Undine (zu Deutsch etwa «Wellenmädchen») hat der Romantiker
Friedrich de la Motte Fouqué berühmt gemacht (1811).

de la Motte Fouqué. – Bild: Goethezeitportal
Hinter dem unheimlichen Wald trifft der Ritter Huldbrand bei Fischersleuten auf ein wunderschönes, doch eigensinniges, kindisches Mädchen: Undine ist nicht deren Tochter, sondern aus dem See zu ihnen gekommen, im «Austausch» gegen ihr anscheinend ertrunkenes Kind. Undine verfällt dem Ritter und erhebt zugleich Anspruch auf ihn; sie wird ihn mehrfach gegen eine Unheil stiftende, mit den Elementen verbündete Gestalt verteidigen: Der wandelbare Kühleborn, ihr Onkel, bald weisser Riese, bald Bach oder Wasserfall, auch mal Brunnenmeister, erinnert Undine daran, dass sie zu den Elementargeistern gehört. Doch beständige Liebe könnte ihr zu einer Seele verhelfen. Der Pater Heilmann, Vertreter des rechten Glaubens, besiegelt ihre Ehe mit dem Ritter; ein Paradies-Zustand scheint erreicht.
Huldbrand muss sich von Undine einige Tabus auferlegen lassen; so lässt sie den Brunnen in der Burg verschliessen – einen Zugang zur Wasserwelt. Sie verliert aber schliesslich ihren Kampf mit der menschlichen Rivalin Bertalda, mit der Huldbrand – ohne den Pater – eine zweite Ehe eingeht, was Undine untergehen lässt, aber für ihn das Todesurteil bedeutet.
Zahlreiche Motive befrachten die Erzählung, die aber mit ihren moralischen, ja religiösen Aspekten Interesse weckt. Elementargeister – auch in Form von Erdgeistern, Kobolden – müssten als böse, verderblich erscheinen; so wird auch Undine, das «Meerfräulein», als Zauberin, als Hexe angesehen. Indes stellt sie sich als die reinere Figur und als Opfer heraus. Die gewöhnlichen Menschen (Huldbrand, Bertalda) hingegen bleiben oberflächlich, materialistisch und untreu; sie verfallen den «Gerichten Gottes», welche Undine selbst vollzieht. Diese hat ihre Tragik als «beseelte, liebende, leidende Frau» erkannt.
Die Kleine Meerjungfrau aus Dänemark
Hans Christian Andersen schreibt 1837 das Kunstmärchen
Die kleine Meerjungfrau.
Die jüngste und schönste Tochter des Meerkönigs sehnt sich nach nichts so, wie aus den Tiefen aufzusteigen, um an Land die Liebe des schönen Prinzen zu gewinnen. Sie weiss, dass Meerjungfrauen nach 300 Jahren sterben, zu Schaum vergehen, ausser sie gewinnen das Herz eines Mannes. Dann nämlich bekommen auch sie eine unsterbliche Seele. Die Meerhexe hilft der Meerjungfrau, das Herz des schönen Prinzen zu gewinnen, allerdings zum Preis der ewigen Stummheit. Gleichzeitig warnt die Hexe, dass das Glück zu Ende sein wird, sobald der Prinz sein Herz einer anderen schenkt. Schön, stumm und anmutig lebt sie beim Prinzen und muss zusehen, wie er eine Prinzessin heiratet. Sie vergeht zu Schaum. Kurz vor ihrem endgültigen Tod erbarmen sich die Luftgeister und zeigen ihr, wie sie mit guten Taten eine unsterbliche Seele erlangen kann.

in Kopenhagen als Vorbild. – Bild: Pixabay
Dieses jungfräuliche Wasserwesen hat eigentlich einen ganz persönlichen Lebensplan, wird jedoch reduziert auf Liebreiz, Duldsamkeit und Güte. Ausserdem ist ihm beschieden, die Gestalt zu wechseln oder gar unsichtbar zu werden. Das Mädchen bekommt in der Pubertät gesagt, dass eine Frau ein extrem gutes und reines Wesen zu sein hat – oder sie wird als gefährliche Verführerin abgestempelt und aus dem Verkehr gezogen. Heutigen FeministInnen stehen die Haare zu Berge; sie sagen sich mit Ute Ehrhardt: «Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin».
Die kleine Meerjungfrau erobert die Kinder-
und Jugendliteratur
Disney lanciert zwischen 1989 und 2008 gleich drei Filme zu «Arielle, die kleine Meerjungfrau». Die Handlung ist eine offensichtlich gelungene Mischung aus bekannten Motiven der verschiedenen Sagen rund um Wasserwesen. Die Kinder sind von den Filmen hingerissen, die Verlage ebenso, denn Arielle lässt sich in verschiedenen Medien unendlich vermarkten. Arielle und Harry Potter haben bestimmt dazu beigetragen, dass seit 2000 das fantastische Genre in der Kinder- und Jugendliteratur eine zunehmende Rolle spielt. Fantastische Welten sprechen Kinder und Jugendliche oft sehr an, weil da klare Regeln herrschen, die sie vielleicht eher verstehen als jene in ihrer aktuellen und realen Umgebung.
Tauchen wir tiefer?
Karin Mulder: Wasserwesen? Man liebt sie oder fürchtet sich vor ihnen. Bis ins 19. Jahrhundert glaubten viele an ihre Existenz. Die Aufklärung hat gründlich mit ihnen «aufgeräumt» – vielleicht sind ja alle in den vielen Netzen der Fischer hängen geblieben?
Heinz Gfeller: Wasser ist – neben viel Schönem – gefährlich. Daher die Erzählungen von untergehenden, verschlungenen Männern. Ob aber Frauen ebenso auf Männer wirken? Die erotische Komponente erscheint ja bei all den Nixen- oder Sirenen-Geschichten offensichtlich.
Heidi Bühler-Naef: Wasser wäscht rein und steht für das Gute und Fruchtbare. Auf- und Abtauchen der Wasserwesen symbolisieren Übergänge. Am Beispiel der Kleinen Meerjungfrau mag das heissen: Übergang vom Mädchen zur Frau, von der Kindheitsfamilie in die eigene Familie – oder vom Leben in den Tod.