Beginn von Fabienne Ayer
Gerade hat sie sich aufs Sofa hingesetzt, nachdem sie die Küche aufgeräumt hat. Endlich Feierabend. Es ist 22.15 Uhr. Die dunkle Jahreszeit, neblig, trüb, nasskalt, aber noch kein Schnee. Dezember. Es klingelt forsch und unnachgiebig an der Haustür, mehrmals. Sie steht auf und überlegt, wer um diese Zeit wohl etwas von ihr möchte. Vor der Tür steht ein ehemaliger Nachbar. Sie kennt ihn nicht gut, jedoch gut genug, um zu wissen, dass er Schwierigkeiten hat. Schon lange hat sie ihn nicht mehr gesehen. Sie bittet ihn herein. Tee, Kaffee? Etwas zu essen? Er nickt, Tee. Schnell kocht sie Schwarztee, stellt Zucker und Milch bereit, schneidet frisches dunkles Brot auf und Alpkäse. Wenige Minuten später steht alles vor ihm bereit. Hungrig und durstig langt er zu und erzählt… Er ist obdachlos und fragt, ob er bei ihr schlafen kann. Sie hat kein Gästebett. Er möchte auf dem Fussboden im Wohnzimmer schlafen.
Fortsetzung von Ella Lory (16)
Ohne darüber nachzudenken, erklärt sie sich einverstanden. Freunde in Not helfen schliesslich einander, dafür sind Freunde doch da, oder etwa nicht? Also bereitet sie ihr Sofa im Wohnzimmer vor und macht daraus einen gemütlichen Schlafplatz.
«Freunde in Not helfen schliesslich einander, dafür sind Freunde doch da, oder etwa nicht?»
Doch Zeit zum Schlafen ist es noch lange nicht, sie wollte diesen Abend eigentlich in aller Ruhe über den Weihnachtmarkt schlendern und die letzten Weihnachtsgeschenke einkaufen. Dass nun der Abend ein bisschen anders verlaufen ist als gedacht, stört sie aber gar nicht und sie lädt ihren ehemaligen Nachbarn und neuen Mitbewohner auf einen Glühwein am Weihnachtsmarkt ein. Ihm ist es zwar nicht so recht, da sie ihm schon so viel gegeben hat, aber ein Spaziergang durch den Weihnachtsmarkt hat noch nie geschadet. Also machen sie sich auf den Weg in die Stadt. Auf dem Weihnachtsmarkt wimmelt es von kleinen Ständen und Tannenbäumen und es funkelt und glitzert von allen Seiten, ein magischer Anblick.
Gemütlich schlendern die zwei durch die Stände, trinken einen Glühwein und lassen es sich gut gehen. Nach knapp einer Stunde kommen sie an einem Stand vorbei mit der Aufschrift: «Lucky punch, a win for life (Glückstreffer, ein Gewinn fürs Leben)». «Komm, da machen wir mit, ich kaufe dir ein Los!», sagt sie. Er steht nur verdutzt daneben und nimmt dankend das Los entgegen. Viel Hoffnung, etwas zu gewinnen, hat er nicht, aber probieren kann man es ja trotzdem. Also beginnt er, die Gewinnzahlen aufzurubbeln mit seiner einzigen Glücksmünze.
«Lucky punch, you won for your life». Als er dies liest, kann er es kaum fassen. Er hat doch tatsächlich den Jackpot geknackt und den Hauptpreis ergattert. Bis vor kurzem noch obdachlos und keinen Rappen Geld mehr, und nun Millionär. Was für ein Tag.
Doch im selben Augenblick fällt ihm ein, durch wen er eigentlich an das Los gekommen ist und wer sich um ihn gesorgt hat, als er nichts mehr hatte. So dreht er sich um, nimmt sie in den Arm und meint: «Geld wird überbewertet. Lass es uns spenden für ein Obdachlosenheim.»
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