Werner: Mara, deine Texte, die du bisher bei UND veröffentlicht hast, sprühen vor Spontaneität und Leben. Kannst du mir sagen, wie solche Texte zustande kommen? Packt dich da einfach plötzlich ein Einfall, und los geht‘s?
Mara: Ich weiss auch nicht genau, manchmal trage ich so viele Gefühle und Gedanken mit mir, dass ich gar nicht mehr genau weiss, wohin ich damit soll. Es sprüht dann nur noch vor Wörtern, Gefühlen und Farben in mir. Und das kann auch mal ziemlich überfordernd sein. Ich muss einfach schreiben und alles loswerden, dann kann ich wieder beruhigt schlafen und denken. Manchmal liege ich todmüde im Bett und dann kommt mir ein genialer Satz in den Sinn und da muss ich ihn einfach aufschreiben (lacht).
Ich bin jemand, der sehr stark fühlt, von einem Extrem ins andere – von tieftraurig zu überglücklich – und auf dem jeweiligen höchsten Punkt schreibt es sich am besten. Nur dann kommen auch wirklich tolle Sätze zusammen, Sätze, die auch später Sinn ergeben. Wie ist das bei dir? Wann kannst du am besten schreiben?
«Ich kann also, wenn ich so sagen will, der Inspiration den Platz freigeben.»
Werner: Oft schreibe ich Texte zu einem sachlichen Thema, wie zum Beispiel über Politik, ein soziales Projekt oder ein theologisches Problem. Da sammle ich Informationen, notiere mir Ideen und ordne das Ganze, bevor ich schreibe. Das ist Kopfarbeit, auch wenn ich es meist mit Freude tue. Anders ist es, wenn ich ins Tagebuch schreibe oder wenn ein Gedicht, eine Erzählung entsteht. Da staune ich jeweils, wie das einfach so kommt. Ich habe dann das Gefühl, es gebe eine Instanz in mir, die klüger ist als ich selber und die mir alles eingibt. Und, wie du sagst, die besten Texte entstehen, wenn es einfach so sprudelt.
Ähnlich geht es mir, wenn ich auf der Geige improvisiere. Da muss ich die Geige selber machen lassen, wenn gute Musik entstehen soll. Du spielst ja Klavier und du zeichnest. Geht es dir dabei ähnlich wie beim Schreiben?
Mara: Beim Klavierspielen und beim Zeichnen habe ich etwas mehr Mühe, einfach so aus dem Bauch heraus etwas entstehen zu lassen. Wenn ich Musik mache, spiele ich zufällige Akkorde, die nacheinander einen schönen Klang ergeben, die mein Improvisieren prägen. Ich denke, für richtig komplizierte Melodien spiele ich zu wenig routiniert. Da habe ich beim Singen schon mehr Möglichkeiten.
«Für mich ist das Schreiben eine Zuflucht, und die Inspiration hilft mir, meinen Texten das nötige
`Besondere` zu geben»
Beim Zeichnen muss ich einen Tag haben, an dem die Linien sich auf dem Blatt so wenden, wie ich es gerne hätte. Wenn ich nicht so einen Tag habe, kommt nicht wirklich etwas Gutes zustande. Und ich warte lieber, bis ich wieder eine kreative Phase habe.
Hast du auch Tage, an denen dir die Inspiration fehlt, um kreativ zu sein? Oder kannst du dich ziemlich schnell darauf einstellen und so etwas entstehen lassen?
Werner: Ich kann nichts erzwingen. Aber ich kann mich hinsetzen, mich entspannen, es kommen lassen. Ich kann also, wenn ich so sagen will, der Inspiration den Platz freigeben.
Was mir noch wichtig scheint: Auch wenn es sprudelt, ist nicht nur Spontaneität im Spiel. Ich muss auch daran arbeiten. Zum Beispiel die Inspiration von unsinnigen oder unwichtigen Einfällen zu unterscheiden. Dann braucht es oft eine Nachbearbeitung, damit der Text die richtige Form erhält. Und vor allem: Ich kann nur schreiben oder musizieren, weil ich es lange und intensiv geübt habe. Kennst du das auch: Arbeit, Kontrolle, Korrektur?
Mara: Spannend, dass du das Thema ansprichst. Bei mir ist es so, dass ich meine Texte nicht wirklich oft korrigiere und neu schreibe. Auch weil ich grammatikalisch eine totale Niete bin. Ich bin ziemlich schnell zufrieden, was auch zu meinem Charakter passt. Ich bin nicht immer sehr geduldig mit mir selbst. Durch das Schreiben bei UND habe ich gelernt, meine Texte zu überarbeiten und mir mehr dabei zu überlegen. Und manchmal kommen tatsächlich bessere Sätze zusammen.
Werner: Ja, so spielen Inspiration, Reflexion und was sonst noch in uns läuft, beim Schreiben zusammen. Eines ist mir dabei klar: Ich möchte immer mehr nicht nur das Schreiben, sondern auch das Alltagsleben aus der Inspiration heraus entstehen lassen. Doch das ist eine grosse Herausforderung.
Mara: Für mich ist das Schreiben eine Zuflucht, und die Inspiration hilft mir, meinen Texten das nötige «Besondere» zu geben, damit sie die Menschen berühren – und das ist alles, was ich erreichen will.
Am Punkt Null
Dein Leben ist Lüge! Dieser Satz schlug ein. Niemand hatte ihn gesagt. Er lag auf der Zunge, wie ein bitteres Medikament. Und das in dieser Landschaft, auf diesem Streifzug am Ufer des rauschenden Meeres. Lange sass er wie gelähmt. Was hat mich da gepackt? Hat mir die Hitze zugesetzt? Und doch…
Vieles kann Sinn machen, sagte er sich: Heiraten, Kinder aufziehen, das Geschäft in Schwung halten, sich für Kunst interessieren, dem Meer lauschen – eines ist es sicher nicht: Andern Dinge erzählen, die du selber nicht weisst; sie Dinge lehren, die du selber nicht lebst.
Die Leute in den Vergnügungsvierteln: Prostituierte, Beizenhocker, Ausgeflippte, Fixer – vielleicht sind sie auf dem besseren Weg als ich. Ich mit meinen hochgezüchteten Kulturidealen! Ich bin wohl zu hoch eingestiegen. Was weiss ich denn? Was leb ich denn?
Meine sogenannte Persönlichkeit – ein künstliches Gerüst. Ein Ballon mit aufgemalten Gesichtern. Ich habe keine Eigenart – ich setze Eigenarten auf, um Wirkung zu erzielen. Farblos, fade.
Hallo, hallo! Da bin ich nun ganz unten angelangt. Nackt auf dem kalten Boden. Punkt Null. Keine Illusion mehr über mich selber. Seltsam – auch das ist eine Art Friede. Auf dem Nullpunkt leben – warum nicht?
Die Angst lässt nach. Ich bin so. Nicht gerade glorreich, aber es ist meine Wahrheit. Damit kann ich leben. Leben ohne stützende und begütigende Theorien. Die Stockwerke abreissen. Einfach da sein.
Ich glaube, ich blicke durch.
Ich verliebe mich
Ich verliebe mich immer wieder neu. Ich verliebe mich in Tatsachen, in Gegenstände, in Vorstellungen, in Bilder und in die Melodien der Musik.
Ich verliebe mich in fremde Menschen, die ich auf der Strasse beobachte. Ich verliebe mich in Bücher, in fiktive Menschen. Ich verliebe mich in treue Augen, grüne, blaue, braune. Ich verliebe mich in rote Lippen, die der Frau gegenüber mir im Abteil. Ich verliebe mich in einen Kleidungsstil, den Gang eines besonderen Jungen auf der Strasse. Und wie ich mich in diese StrassenmusikerInnen verliebe, deren Stimmen die Bahnhofshalle füllen. Ich verliebe mich in einen Blick. Ich verliebe mich in die Vorstellung eines Lebens mit vielen Abenteuern und einer wahnsinnigen Liebesgeschichte. Ich verliebe mich in Sonnenuntergänge und Sonnenaufgänge, in den Sternenhimmel und in den Mond, der die Nacht erleuchtet.
Ich verliebe mich in die Welt, obwohl sie so abscheulich sein kann. Ich verliebe mich in Menschen. Ich verliebe mich in Bilder. Ich verliebe mich immer wieder neu, in alles, was ich sehe – und zu allerletzt verliebe ich mich in dich.