Unsere Erinnerungen prägen, wer wir sind. Erinnerungen sind wertvoll – doch sie können auch fehlgeleitet sein. Der Rückblick auf unser Leben kann Fragen und neue Einsichten auslösen. Wofür müssen wir Verantwortung tragen? Haben wir immer das getan, was wir als moralisch korrekt empfanden? Ja, wir begehen Fehler – vielleicht wussten wir es damals nicht besser?
Mit diesen Sätzen umschreibt Marianne Senn die Problematik, der sich der Roman «Vom Ende einer Geschichte» von Julian Barnes widmet. Die Lektüre hat in unserer Buchclub-Runde etliche inhaltliche, aber auch persönliche existentielle Fragen aufgeworfen.
Der berühmte englische Autor versetzt uns ganz ins Bewusstsein seiner Hauptfigur Tony Webster in fortgeschrittenem Alter, in einem anscheinend friedlichen Ruhestand. Von einem überraschenden Brief aufgerüttelt, der lange verschollene Gestalten auferstehen lässt – vor allem seinen toten Jugendfreund Adrian – beginnt Tony sich oder uns sein vergangenes Leben zu erzählen und zu beurteilen. Dabei erkennt er durchaus, wie unsicher die Erinnerung arbeitet; aber wir merken auch, wie jemand seine Ansichten zurechtbiegen kann. Langsam – und das ist der «kriminalistische» Aspekt des Romans – kommt Tony hinter eine Untat, die er wohl am Freund und einer gemeinsamen Geliebten begangen hat.
Julian Barnes bleibt übrigens stark im Gespräch: 2016 ist sein bemerkenswerter Roman «The Noise of Time» (Der Lärm der Zeit) über den Komponisten Schostakowitsch erschienen, ein Künstler in der Stalin-Ära. Gleichfalls zu empfehlen!