
Da stehen wir wirklich und wahrhaftig vor einem Problem. Wir haben es, glauben wir den Sprachforschern, mit einem uralten, sich stets gleich bleibenden Wort zu tun – und zugleich mit einer nie recht fassbaren Idee: Wahrheit.
«Es handelt sich um einen hohen Wert, an dem wir gern alles messen würden.»
Es handelt sich um einen hohen Wert, an dem wir gern alles messen würden. Um einen Gipfel: Wenn ein Werk, eine Erscheinung nicht vollkommen wirken, sind sie «noch nicht das Wahre». Etwas, was nicht zu bezweifeln ist, beschwören wir mit «so wahr ich hier stehe (oder: lebe)»; dass ich da bin, will ja wohl niemand bestreiten, oder? Wenn wir eine Behauptung bestätigt sehen wollen, fügen wir allerdings an: «nicht wahr?» Es scheint auch nur zwei Möglichkeiten zu geben: Etwas ist entweder wahr – oder unwahr, also falsch, und damit verurteilt. Die WahrsagerInnen aller Zeiten dürften sich, bei allem Nebel um ihre Sprüche, darauf berufen haben: Was sie orakeln, das stimme. Wenn etwas zunächst Unsicheres, eine Ahnung, eine Prophezeiung, sich bewahrheitet, dann steht es plötzlich fest, unverrückbar.
«Das Wirkliche kann schwanken; dann tritt etwas als «wahrscheinlich» auf. Mehr Schein oder mehr wahr? Doch «wahr» schwankt ebenfalls.»
Und doch haben wir Schwierigkeiten, namentlich gegenüber einem anderen Begriff: der Wirklichkeit. Was sichtbar da ist, gar zum Anfassen, heisst real, wirklich. Es gibt zwar DenkerInnen, die die Realität unserer Welt in Frage stellen; aber ich fühle mich mit den meisten Menschen einig darin, dass wir und alles um uns existieren. Was allerdings Gedanken, Ideen angeht, da wird’s fragwürdiger. Und es steht offen, ob, was wirklich ist, auch wahr sei. Wir hören über etwas berichten; ist es tatsächlich geschehen, beweisbar? Falls ja, muss es wohl wahr sein. Doch der Begriff greift weiter aus: Wahr ist, was gültig ist, was überzeugt, was auch moralischen Ansprüchen genügt. Das Wirkliche kann schwanken; dann tritt etwas als «wahrscheinlich» auf. Mehr Schein oder mehr wahr? Doch «wahr» schwankt ebenfalls.
«Doch in Wahrheit gibt’s nicht nur die Einzahl, das eine hehre Wort – es gibt Wahrheiten. Jeder Mensch hat sie, verteidigt sie wohl auch.»
Wird Wahrheit allgemein anerkannt? Schön wäre es – vielleicht. Jedenfalls wenn es um Grundsätze geht, die wir gern edel, erhaben, einfach gut finden. Doch in Wahrheit gibt’s nicht nur die Einzahl, das eine hehre Wort – es gibt Wahrheiten. Jeder Mensch hat sie, verteidigt sie wohl auch. Oft, aber bei weitem nicht immer, empfehlen sie sich, indem sie von vielen geteilt werden. Eine kommunistische, eine christliche, eine ökonomische Wahrheit – stehen sie höher als andere? Stehen nicht sogar die «letzten Wahrheiten» in der Mehrzahl? Und wer kennt sie?