Die Beziehung zum eigenen Körper: Wer bin ich?

Transgender, lesbisch, schwul, bisexuell und intersexuell: Die Bezeichnungen Mann und Frau reichen nicht aus, um das Geschlecht eines Menschen zu bezeichnen. Davon handelt das Musical «Coco», die wahre Geschichte einer Transfrau.

Bild: Berner Stadttheater

Annemarie: Cocos Geschichte ist keine leichte Kost, auch wenn sie im Musical frech, bunt und schräg daherkommt. Coco, ursprünglich Marc-Patric Lorétan, machte in Thun die Matura, die sie 1988 als Zweitbeste ihres Jahrgangs abschloss. Das Maturazeugnis hat sie in roten Lackpumps und im Minirock entgegengenommen. Coco konnte sich bereits als Kind nicht mit ihrem männlichen Körper identifizieren.

Eine Frau ohne Busen
und mit Penis

Mariëlle: Es ist nicht ganz eindeutig – ist das jetzt ein Mann oder eine Frau? Eine Person mit schulterlangen, blonden Haaren, nur mit Unterhose bekleidet, betritt die Bühne. Schmale Lippen, ein schlanker Körperbau und wenig behaarte Körperstellen zeigen Coco, wie sie vor der Opera-
tion aussieht. Der Penis sowie der fehlende Busen zeichnen das Geschlecht aus: Es ist ein Mann. Mit einer Corsage aus glänzendem Leder, dunklen Strümpfen und Hotpants bekleidet, lässt er Verwirrung aufkommen. Ist das jetzt eine Frau? Die Darstellung von Coco im Musical benötigt eine Schauspielerin und einen Schauspieler und veranschaulicht damit die Zerrissenheit dieser Person, die sich als Frau fühlt und wie ein Mann aussieht. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Coco von einer Frau verkörpert wird. Coco ist in ständigem Streit mit ihrem männlichen Ego, sie will es wegjagen, ihn loswerden, er ist aber wie ein Schatten, der sich nicht ablösen kann.
Coco verliebt sich in einen Mann, der homosexuell ist und den männlichen Körper von Coco liebt. Nach der Operation ist Coco nicht mehr sexuell attraktiv für ihn. Er hat Coco gern, kann aber nicht aus seiner Haut, wie er ihr gesteht. Eine schmerzliche Erfahrung für beide.

Coco einmal als Mann, einmal als Frau. Von links: Luca, Cocos Freund Rick, gespielt von Luca Dimic;
und Coco, einmal gespielt von Mariananda Schempp und einmal von Gabriel Schneider.- Bild: Berner Stadttheater

Wenn ihr mich anschaut,
seht ihr nicht mich

Annemarie: Es gibt Transfrauen und Transmänner. Transfrauen sind Frauen, die in einem männlichen Körper geboren wurden, und bei Transmännern ist es umgekehrt. Transmenschen zwingen uns, unser Rollenbild

«Ich sah fast nur Nachteile darin, als Mädchen geboren worden zu sein. »
Annemarie Voss

von Mann und Frau zu hinterfragen. Sind wir wirklich das, wofür wir uns halten? Haben wir nicht auch Anteile des anderen Geschlechts, die wir nicht ausleben?

Ich bin glücklich als Frau, auch wenn ich kinderlos bin, also in den Augen einiger Menschen keine 100-prozentige Frau, da «richtige» Frauen auch Mütter sind. Ich habe es bedauert, weder Schwangerschaft, Geburt noch Mutterschaft erleben zu dürfen, aber als Kind und Teenager hätte ich es bevorzugt, dem anderen Geschlecht anzugehören. Ich sah fast nur Nachteile darin, als Mädchen geboren worden zu sein. Zu viele Einschränkungen mit der Begründung «das gehört sich nicht für ein Mädchen», so spricht man nicht, sitzt man nicht als Mädchen. Auch die Berufswahl war noch stark geschlechtsspezifisch geprägt. Im Vergleich zu meinem Bruder sah ich mich als Mädchen massiv eingeengt in meinen Freiheiten. Ganz schrecklich war auch, dass ich als Teenager Helanca-Strumpfhosen anziehen musste und einen Büstenhalter, obwohl ich noch keinen ausgeprägten Busen hatte; und das Menstruieren hätte ich ohne lange zu überlegen gegen einen Penis eingetauscht. Aber nie wäre mir in den Sinn gekommen, im falschen Körper zu sein.

Mariëlle: Das Geschlecht einer Person ist meistens auf den ersten Blick erkennbar. Es ist also das, was Mann oder Frau sieht. Zu welchem Geschlecht sich jemand zugehörig fühlt, ist eine persönliche Entscheidung und muss meiner Ansicht nach auch nicht eindeutig sein. So kann ich Annemaries Empfindungen gut verstehen. Früher, so kann ich mir vorstellen, war der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern noch viel ausgeprägter. Heute können auch Frauen typische Männerberufe ausüben oder umgekehrt. Ich persönlich kann mich noch gut an meine Jugendzeit erinnern, als ich gerne «Männerkleider», also weite Hose, grosse Pullover und Sportschuhe getragen habe. Zu dieser Zeit habe ich mich immer als Frau gefühlt, doch ich fühlte mich in den zu grossen Kleider wohl und konnte meinen Körper verstecken. Einen eindeutigen Unterschied zwischen Mann und Frau, sei es bei den Toiletten im öffentlichen Raum, den Kinderspielsachen oder Kleiderabteilungen, braucht es meiner Meinung nach nicht unbedingt. Als viel wichtiger erachte ich es, die Akzeptanz sowie die Individualität zu fördern.

Die Geschichte der
Geschlechtsumwandlung

Etwa eine von 200 Personen fühlt sich nicht nur dem Geschlecht zugehörig, dem sie nach der Geburt zugeordnet wurde. Das bedeutet, dass etwa 40‘000 Transmenschen hier leben, von denen aber nicht alle eine Hormontherapie oder eine geschlechtsangleichende Operation hinter sich haben. Diesen Schritt haben nur ein paar Tausende vollzogen. Bereits Anfang der 1930er-Jahre unterzog sich Lili Elbe, eine Transfrau, in Berlin einer geschlechtsangleichenden Operation. Lili Elbe verstarb 1931, nach zwei weiteren Eingriffen. Auf ihrer Geschichte beruht der Film «The Danish Girl», der 2015 erschienen ist. Die Geschichte der chirurgischen Geschlechtsumwandlung ist also keine neue.
Die Zahl der geschlechtsangleichenden Operationen pro Jahr in der Schweiz ist nicht bekannt, da die Spitäler keine spezifischen Statistiken erstellen, wie das Transgender Network Schweiz mitteilt. Die Grundlage jeder Umwandlung ist eine Hormontherapie. Schon bei Kindern kann ein Pubertätsblocker eingesetzt werden, damit sich der Körper nicht in typisch Frau oder Mann verändert. Frühzeitig eingesetzt, also im Alter ab 11, 12 Jahren, verschafft es den Transjugendlichen Zeit, sich für eine Identität zu entscheiden, wenn sie emotional und psychisch dazu in der Lage sein sollten. Durch Pubertätsblocker können auch spätere Operationen vermieden werden. Ein Busen oder ein Adamsapfel, der nicht erst wächst, muss später auch nicht entfernt werden.

Bild: Berner Stadttheater

Einen Sohn verlieren
und eine Tochter gewinnen

Mariëlle: Fühlt sich jemand in seinem oder ihrem Körper nicht wie wie ein «Ich», wird häufig lediglich die Perspektive der betroffenen Person beleuchtet. Doch wie reagiert das Umfeld auf diese Situation? Wichtige Figuren im Musical sind auch die Eltern von Coco. Sie werden als bürgerlich, mit einer konservativen Haltung dargestellt. Ziemlich überfordert reagieren sie auf das Outing ihres vermeintlichen Sohns.
Es ist, als hätten sie für etwas gekämpft, alles gegeben, auf Dinge verzichtet, mit dem Kind Tränen gelacht und Gespenster vertrieben, und alles scheint umsonst gewesen zu sein.
Eltern, die einen solchen Prozess bei ihrem Kind miterleben, machen sich häufig selber Vorwürfe. Was haben wir falsch gemacht? Wieso ist uns nicht früher etwas aufgefallen? Natürlich ist die Angst zu spüren, vielleicht nie Grosseltern werden zu können. Bei den Eltern von Coco war das etwas ganz Besonderes. Zumal sich Coco dafür entschied, sich

«Was hindert Eltern
daran, ihre neue Tochter zu akzeptieren und zu lieben?»
Mariëlle Schlunegger

einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Die Eltern verlieren ihr Ein und Alles, ihren einzigen Sohn, und was passiert dann? Ein neues Kind wird «geboren», eine Frau. Es fängt ein neuer Prozess an, der für Coco wie für ihre Eltern eine Herausforderung darstellt. Es ist schwierig, weil die neue Tochter kein Neugeborenes ist, das man allmählich kennen lernen kann, während es aufwächst und erwachsen wird. Einerseits wollen wir doch alles für unser Kind geben, andrerseits aber ist es eine erwachsene Person, die wir von Grund auf neu kennen lernen müssen. Was hindert Eltern daran, ihre neue Tochter zu akzeptieren und zu lieben?

Diskriminierung
von Transmenschen

Annemarie: Viele Transmenschen berichten von Beschimpfungen, Verspottungen, auch von körperlichen Angriffen. Anerkennung bei Ämtern, am Arbeitsplatz, teilweise sogar bei ÄrztInnen sei nicht selbstverständlich. Sozialer Abstieg und Arbeitsplatzverlust folgen oft dem Coming-Out, berichtet das Transgender Network Schweiz (TGNS). Nicht alle haben das Glück, dass das Umfeld zu ihnen hält. ☐


Weitere Vorstellungen

Das Musical «Coco» wurde ab 20. April als Uraufführung des Stadttheaters Bern aufgeführt. Weitere Vorstellungen: 30.12., 31.12.2018 und am 5.1.2019 in den Vidmarhallen. www.konzerttheaterbern.ch