Synästhesie: sinnliche Beziehungen der besonderen Art

Die Zahl 2 mag rot sein, der Samstag gelb schillern, blaue Buchstaben duften vielleicht nach Zimt. Überlappungen von zwei oder sogar mehreren Sinnen sind vielen Menschen fremd, andere empfinden sie als ganz natürlich. Professor Beat Meier von der Uni Bern erforscht das Phänomen.

Illustration: Hansruedi Käppeli

Synästhesie ist keine Krankheit, sondern, wie Professor Beat Meier sagt, «eine Variation des menschlichen Erlebens». Durch besondere Verbindungen von verschiedenen Hirnregionen können bestimmte Reize unerwartete Erlebnisse auslösen.
Recht viele Menschen kennen solche kombinierte Sinneswahrnehmungen. Man braucht nicht ein «Cyborg» zu sein wie der britische Pianist Neil Harbisson, der bis zum Alter von 21 Jahren nur Grautöne erkennen konnte, und dem sich dank einer spektakulären technischen Einrichtung eine völlig neue Erfahrungswelt eröffnet hat. Der Begriff Cyborg ist ein Zusammenzug aus dem englischen cybernetic organism und bezeichnet Lebewesen, deren physiologisches Funktionieren dauerhaft durch ein mechanisches oder elektronisches Gerät unterstützt wird oder von diesem abhängig ist. Neil Harbisson trägt auf dem Kopf gut sichtbar einen Antennensender, der die Frequenzen von Farben wahrnimmt und an einen in seinem Hirn implantierten Chip sendet. Diese Frequenzen werden in Töne übersetzt, so kann Neil Harbisson Farben sowie eine Reihe von weiteren Wahrnehmungen hören. Kein Wunder, bezeichnet er seine jetzige erweiterte Erlebenswelt als «enthüllte Wirklichkeit». Synästhesie sieht man den Menschen nicht an. Oft ist ihnen selber nicht bewusst, dass ihre Sinneserlebnisse besonders sind und dass die «Verdrahtung bei ihnen halt eine bisschen anders ist», wie es der Neurobiologe Christof Koch ausdrückt. Es gibt MusikerInnen, MalerInnen, Genies, AutistInnen unter ihnen und viele Menschen wie Sie und mich.

Professor Beat Meier, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit der Synästhesie. In den Medien begegnet uns dieser Begriff ab und zu, viele Menschen haben jedoch noch nie davon gehört. Worum geht es?
Beat Meier: Der Begriff leitet sich vom Altgriechischen syn (zusammen) und aisthesis (Empfinden) ab, bedeutet wörtlich also «Zusammen-Empfinden». Die verschiedenen Formen sind dadurch bestimmt, welche auslösenden Reize zu welchen synästhetischen Erlebnissen führen. Bei der Graphem-Farb-Synästhesie werden Buchstaben in bestimmten Farben erlebt, bei der Sequenz-Raum-Synästhesie hat beispielsweise eine bestimmte Zahl eine ganz spezifische räumliche Position, bei der Ton-Farb-Synästhesie lösen Klänge Farberlebnisse aus. Es gibt verschiedenste Möglichkeiten für synästhetische Sinnesverknüpfungen; die eben genannten gehören zu den häufigsten. Der Präsident der amerikanischen Synästhesie-Gesellschaft, Sean Day, führt eine ausführliche Liste mit ihm bekannten Synästhesie-Formen.

Wie entsteht dieses Phänomen der gekoppelten Wahrnehmungen?
Synästhesie ist vermutlich genetisch bedingt. Sie kommt gehäuft in Familien vor. Da viele Auslöser wie Zahlen und Buchstaben kulturelle Errungenschaften sind, ist aber auch eine Lernkomponente beteiligt. Auf neurologischer Ebene bestehen bei SynästhetikerInnen stärkere Verknüpfungen zwischen bestimmten Gehirnregionen.

Was hat Sie zu diesem speziellen Forschungsgebiet geführt?
Ich bin interessiert an individuellen Unterschieden bezüglich der Art, wie wir die Welt erleben. Zudem erfahren mehrere Bekannte von mir zum Teil sehr starke Formen der Synästhesie, die sie im künstlerischen Bereich nutzen.

Professor Beat Meier. – Bild: Uni Bern

Sie betreuen eine Studie, in der die Häufigkeit der verschiedenen Synästhesie-Formen in der Schweiz untersucht wird.
Umfassende Studien wurden bisher alle im englischsprachigen Raum durchgeführt, deshalb ist eine grossangelegte Studie im deutschsprachigen Raum zum Vergleich wichtig.

Wie gross ist der Anteil an SynästhetikerInnen?
Synästhesie betrifft etwa vier Prozent der Bevölkerung.

Verändern sich die Verknüpfungen im Lauf eines Lebens?
Charakteristisch ist, dass diese Erlebnisse automatisch ausgelöst werden und ihre spezifischen Verknüpfungen mit den auslösenden Reizen über das ganze Leben weitgehend unverändert erhalten bleiben. Wenn also der Buchstabe A für eine Person rot ist, bleibt er es. Die jeweiligen Verknüpfungen sind jedoch individuell verschieden. A kann also für jede Person eine andere Farbe haben. SynästhetikerInnen berichten, dass diese Verknüpfungen bestehen, seit sie sich erinnern können.

Kennen Sie besonders exotisch anmutende Kombinationen?
Wir hatten selbst die Gelegenheit, zwei Personen zu untersuchen, bei denen Schwimmstile unterschiedliche Farberlebnisse auslösen. Interessant ist besonders, dass beide schon seit ihrer Kindheit wettkampfmässig schwimmen und auch eine Graphem-Farbsynästhesie haben. Es scheint also, dass sich hier die Synästhesie ausgeweitet hat.

Kann eine Synästhesie den Alltag erleichtern beziehungsweise beeinträchtigen?
Fragen wir SynästhetikerInnen nach ihren Stärken und Schwächen, so nennen sie als Stärken am häufigsten Gedächtnis, Sprachgewandtheit, Kommunikation und künstlerische Fähigkeiten. Als Schwäche wird der Orientierungssinn, so die Links-Rechts-Unterscheidung, häufig genannt. Die deutlichsten Auswirkungen hat Synästhesie auf Gedächtnisleistungen, allerdings weniger ausgeprägt als ursprünglich angenommen. Synästhesie beeinflusst auch die Kreativität. Viele berühmte KünstlerInnen sind oder waren SynästhetikerInnen. Fragebogenstudien zeigen, dass SynästhetikerInnen oft in kreativen Berufen arbeiten, bei denen spezifisch jene Fähigkeiten benötigt werden, welche durch die entsprechenden Synästhesieformen verstärkt werden. Negative Auswirkungen kann Synästhesie dann haben, wenn die Verarbeitung von Reizen gefordert wird, welche einen Konflikt mit dem synästhetischen Erleben auslösen. Zum Beispiel dann, wenn farbige Buchstaben oder Zahlen involviert sind, deren Farben nicht mit der eigenen synästhetischen Farbe übereinstimmen. Dieser kognitive Konflikt kann einerseits eine emotionale Reaktion auslösen «das gefällt nicht» oder «passt nicht»; er kann ebenfalls dazu führen, dass die Reize langsamer verarbeitet werden und zudem die Erinnerung anschliessend schlechter ist. Dies hat eine konkrete Bedeutung in der Primarschule für das Erlernen von Alphabet und Zahlen und sollte von den LehrerInnen beachtet werden.

Können Synästhesie-Erlebnisse erlernt werden?
Assoziationen beispielsweise zwischen Buchstaben und Farben können trainiert werden. Dies kann ähnliche Erlebnisse hervorrufen wie bei einer echten Synästhesie. Allerdings verschwinden sie rasch wieder, wenn nicht mehr trainiert wird. Diese Resultate können ein Hinweis darauf sein, dass es eine kritische Phase in der Kindheit gibt, in der überdauernde synästhetische Assoziationen gebildet werden.

Besteht ein Zusammenhang von Synästhesie mit dem Autismus-Syndrom oder dem Aufmerksam-Defizit-Syndrom AD(H)S?
Es scheint in der Tat, dass Synästhesien bei von Autismus betroffenen Personen gehäuft auftreten. Entsprechende Hinweise zu ADS gibt es nicht.
Seit wann interessiert sich die Wissenschaft für Synästhesie?
Bereits vor rund 100 Jahren wurde zum Phänomen geforscht. Die Entwicklung bildgebender Verfahren in den letzten Jahren führte zu einer markanten Zunahme. Durch die objektive Darstellung der aktivierten Hirnareale kann gezeigt werden, dass die Erlebnisse eine entsprechende neuronale Basis haben, also nicht der Fantasie entspringen, sondern real sind.


Keine Spinner, sondern SynästhetikerInnen

Wassily Kandinsky, Marilyn Monroe, Jimi Hendrix, Miles Davis, Lady Gaga. Pharrell Williams bezeichnet seinen Hit «Happy» übrigens als senfgelb, mit orangefarbenen Akzenten. Und für den Philosophen Wittgenstein war der Mittwoch ein dicker Wochentag. Und auch UND-Autorin Irène Sprenger verknüpft Wochentage und Zahlen mit Farben.

Illustration: Hansruedi Käppeli
Illustration: Hansruedi Käppeli

Emrich, Schneider, Zedler: Welche Farbe hat der Montag? 2016 Verlag Hirzel.
Mächler: Wenn die Vögel violett singen. 2009 Verlag Autumnus.