
Die Sicht des Ingenieurs X…
Jürg Krebs (72)
Kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag rief mich mein neuer Chef in sein Büro und eröffnete mir: «Sie sind zu alt für die Informatikabteilung und überdies viel zu teuer. Sie haben jetzt zwei Stunden Zeit, Ihr Büro zu räumen. Ein Herr der Security-Abteilung wird Sie dabei überwachen. Lassen Sie ja nichts verschwinden. Ihre Computer und Telefone sind bereits deaktiviert. Sie sind ab sofort freigestellt». Als ich mich zu wehren versuchte, lächelte er nur schief und schickte mich hinaus. Ich hatte mein Leben lang engagiert für diese erfolgreiche Autofirma gearbeitet. Zuerst als Elektroingenieur und dann, als die Elektronik Einzug hielt, wurde ich dank Zusatzausbildungen in den USA einer der ersten Elektronikingenieure.
In den letzten Jahren gehörte ich zu einer geheimen Abteilung. Wir programmierten die Elektronik von Dieselmotoren. Wir waren nur wenige Leute – eine verschworene Gemeinschaft, die dichthielt, als wir die staatlichen Kontrollen der Dieselmotoren mit einem Spezialprogramm austricksten. Und dann kam dieser neue Chef. Ein sogenannt «dynamischer Typ», der mich wohl als Konkurrenz empfand, weil ich beliebt war im Betrieb. Er hatte zwar Informatik studiert, war aber im Praktischen eine Niete. Auch seine Personalführung war ungeschickt. Wenigstens konnte ich nachträglich mit einem Anwalt eine anständige Abfindungssumme aushandeln.
Mein neues Abenteuer
Weil ich nicht in eine Depression fallen wollte, kündigte ich meine Attikawohnung, reiste in die USA, kaufte eine chromblitzende Harley Davidson und entdeckte die Südstaaten. In einem Nationalpark lernte ich einen netten Kerl aus meiner Branche kennen und erzählte ihm, dass ich mit fünfzig entlassen worden war. Er sagte spontan: «Wenn du wieder arbeiten willst, habe ich schon im nächsten Monat eine Stelle für dich. Ich leite die Technikabteilung der Motorfahrzeugprüfungen in den USA. Bei uns spielt das Alter keine Rolle. Wer gut ist, ist gut. Basta». Da machte es bei mir sofort «Klick». Ich dankte ihm für sein Angebot und sagte, ich wolle es mir überlegen. Eigentlich gefiel mir das Reisen sehr gut, aber das Angebot war meine grosse Chance! Ich sagte bald zu.
Meine süsse Rache
Nach meiner Einarbeitungszeit wartete ich eine gute Gelegenheit ab. Dann zeigte ich dem Chef, wie die Elektronik der Dieselmotoren die Prüfungen manipulierte. Er schien im ersten Moment beleidigt, dass bisher niemand seiner Abteilung darauf gekommen war, sagte aber, er werde sich persönlich dieser Sache annehmen. Schon am nächsten Tag kam er und bestätigte, dass meine Untersuchung stimme. Ich solle aber schweigen, denn das sei eine sehr grosse Sache – ein Milliardenbetrug.
Was dann passierte, konnte man den Medien entnehmen. Ein Skandal flog auf. Mein Wunsch, dass niemand erfahre, wer den Betrug entdeckt habe, wurde von meinem neuen Chef und Freund erfüllt. Mein Selbstwertgefühl war nun wieder intakt und ich konnte über die Angelegenheit lachen. Rache ist süss! Nach fünf Monaten kündigte ich die Stelle. Nun fahre ich via Mexiko durch ganz Südamerika hinunter bis nach Chile. Ich geniesse das freie Leben. «Und wie schön, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss…» ☐

…und des Abteilungsleiters Y
Jonas Eggenberger (18)
Die letzten Sonnenstrahlen dringen durch das Fenster, spiegeln sich in der glänzenden Tischplatte und tauchen das Büro in ein rötliches Abendlicht. Ein leises Platschen durchbricht die Stille. Eine einzelne Träne hat sich aus meinem Augenwinkel gelöst und ist neben das unberührte Wasserglas gefallen. Das Geräusch hallt durch das Zimmer wie ein Wassertropfen durch eine verlassene Höhle. Ich kann mich noch erinnern, wie ich zum ersten Mal dieses Büro betrat.
Der massgeschneiderte Anzug schmiegte sich perfekt an meine Schultern, eine rote Krawatte hing über meiner stolzen Brust wie die Flamme eines frisch angezündeten Streichholzes, und mein Hochmut stand mir ins Gesicht geschrieben. Ich hatte einen schnellen Aufstieg hinter mir, frisch von meinem Studium war ich zum Abteilungsleiter befördert worden.
Unerwartete Post
Voller Engagement stürzte ich mich also in meinen neuen Job. Es dauerte nicht lange, bis mein Enthusiasmus einem Dauerstress wich. Man könnte wohl sagen, dass mich diese Position überforderte, doch ich liess mir nichts anmerken.
Meine Situation wurde nicht gerade verbessert, als ich eines Morgens einen unsignierten Brief auf meinem Schreibtisch fand. Eine schockierende Nachricht hatte mich erreicht: Meine Firma manipulierte die Kontrollen der Dieselmotoren. Es war ein anonymer Tipp, genannt war der Name eines einzigen Mitarbeiters, der für diesen Betrug verantwortlich war – und er war aus meiner Abteilung. Es handelte sich um einen angesehenen, erfahrenen Elektronikingenieur. Falls der Brief der Wahrheit entsprach, gefährdete dieser Mann den Fortbestand der Firma, und so machte ich mich daran, die Anschuldigung zu prüfen.
Betrug in der eigenen Abteilung!
Das Resultat war bestürzend: Dieser Mann war tatsächlich ein Missetäter. Ich wusste, ich konnte ihn nicht einfach wegen Betrugs feuern, das würde zu viel Aufmerksamkeit auf meine Abteilung ziehen. Also suchte ich mir einen anderen Grund, um den Mitarbeiter zu entlassen.
In meiner Naivität hatte ich geglaubt, das Problem sei damit gelöst. Ich hatte gedacht, ich hätte der Firma mit dem Rausschmiss eines Schwindlers einen Dienst erwiesen; wäre der Betrug ans Licht gekommen, hätte nicht nur ich als Abteilungsleiter in Problemen gesteckt, sondern die gesamte Firma. Noch nie hatte ich mich so getäuscht.
Erst heute Morgen tauchten zwei Typen in schwarzen Anzügen in meinem Büro auf. Sie seien hier um die Elektronik unserer Dieselmotoren zu überprüfen, sagten sie. Das kümmerte mich nicht weiter – ich hatte den Betrüger schliesslich entlassen. Zu meinem Schrecken stellte sich heraus, dass die Prüfungen immer noch manipuliert wurden. Eine ganze Gruppe meiner Abteilung war darauf angesetzt worden. Der Befehl kam von ganz oben – der Betrug brachte der Geschäftsleitung viel Profit. Diese distanzierte sich jedoch offiziell von jeglichen kriminellen Machenschaften und schob die Schuld mir in die Schuhe. ☐