«Meine Augen kann ich schliessen, aber meine Ohren nicht»

Kindergeschrei, Supermarktmusik, quietschende Züge: Ein Dialog über nervende Geräusche, unterschiedliche Empfindlichkeiten und die Stille.

Karin Mulder (78), Tanja Mitrič (23)

Wenn alles zu laut wird… – Bild: Elias Rüegsegger

Tanja: Neulich im Zug lauschte ich einem Mann, der laut telefonierte. Zumindest schien er in der Stille des Waggons laut zu sein. Einige Passagiere drehten sich nach ihm um, doch mich störte er nicht. Er sprach Englisch mit schönem, britischem Akzent und mit einem Bass, der mir sehr gefiel. Eigentlich hätte ich ihm stundenlang zuhören können, ohne auf den Inhalt seines Gesprächs zu achten. Als er dann aber eine Tüte Chips öffnete und, die Tüte laut raschelnd, einen Chip nach dem anderen herausholte, ihn zum Mund führte und dann laut knirschend verspeiste, war es aus mit dem Zauber. Meine Stimmung sank mit jedem Chip tiefer und tiefer. Plötzlich nervte mich auch sein britischer Akzent und sogar sein Bass. Ich fragte mich: «Wieso fühlt sich dieses Knirschen und Rascheln plötzlich unausstehlich laut an?» Karin, hattest du ein ähnliches Erlebnis?

Karin: War die Dauer der Geräusche zu lang? Ich spüre, wie deine anfängliche Sympathie ermüdet, die knackigen Chips werden unerträglich. Mir geht es so, wenn in der Tagesschule hinter dem Haus Pause ist und die Kinder toben und kreischen. Eigentlich finde ich das lebendig und es freut mich. Wenn dann zusätzlich in ganz regelmässigen Abständen ein Ball gegen die Hauswand gekickt wird, dann wird es mir zu viel. Wir sprechen jetzt von Geräuschen, die Menschen verursachen. Die können ziemlich nerven. Wenn ich einen Waldspaziergang mache und mir plötzlich eine Schar «Stockenten» entgegenkommt, die lauthals über alles und nichts schnattern, dann denke ich: Meine Augen kann ich schliessen, aber meine Ohren nicht. Kennst du noch andere Geräusche, die dich nerven?

Karin Mulder und Tanja Mitric diskutieren über Stille und Lärm. – Bilder: msc/mm

Tanja: Kinderkreischen nervt mich. «Stockenten» nerven mich. Die Musik im Supermarkt nervt mich. Eigentlich kann mich jedes Geräusch zur Weissglut bringen, wenn ich schlecht gelaunt bin. Vom Staubsauger bis zu Beyoncé; wenn ich einen schlechten Tag habe, unausgeschlafen bin, reagiere ich besonders empfindlich auf Geräusche, viel empfindlicher als auf Gerüche beispielsweise. Doch diese Tage sind selten und ich nerve mich, wie das nun mal so üblich ist, nur über die alltäglichen, störenden Töne: Das Quietschen des Zuges im Bahnhof, die laute Frau im Bus um sieben Uhr morgens, den jungen Mann im BMW, der um Mitternacht mit offenen Fenstern und aufgedrehter Rap-Musik noch eine «Bahnhofsrunde» dreht. Natürlich regen sich Leute auch über mich auf. Auch ich spreche oder lache oft zu laut, trample spät nachts noch in der Wohnung herum oder feiere mal eine Party. Still sein ist nicht meine Stärke. Wie wichtig ist dir die Stille?

Karin: Da hast du nun viele Geräusche aufgelistet, Tanja, die mich genau wie dich stören. Die Stille wird als Gegenteil von Lärm verstanden. Stille kann schön und angenehm sein; ich meine nicht die schreckliche, bedrohende Stille. Die Stille in der Öffentlichkeit ist rar geworden. Seit ein paar Jahren haben wir am Freitagnachmittag in der Kirche Scherzligen eine «Insel der Besinnung» – dort «hüten» wir die Stille, damit sich Menschen einen Augenblick wirklich ruhig besinnen können. Als zeitweilige Hüterin geniesse ich die Stille ebenso wie die BesucherInnen. Ganz ähnlich las ich in einer kleinen Kirche in Südfrankreich am Eingang: «Gardez le silence qui vous est confié», bewahrt die Stille, die euch anvertraut ist. Das zeigt doch, dass wir Stille brauchen. Als ich einmal im Languedoc Wanderferien mit einer Gruppe gemacht habe, wurde täglich eine Strecke in der Stille gewandert. Erstaunlich waren die Bemerkungen der Beteiligten: «Wir haben dies als wohltuend empfunden und viel mehr aus unserer Umgebung wahrgenommen.» Hast du täglich einen Moment der Stille für dich, Tanja?

Wie wichtig ist dir eigentlich die Stille? Unser Fotograf hat versucht einen Moment der Stille abzubilden. – Bild: Walter Winkler

Tanja: Ich bin viel unterwegs und konstant umgeben von Geräuschen, von Lärm und Tumult. Sogar abends im Bett höre ich vor dem Einschlafen beispielsweise die Autos auf der Autobahn oder Krankenwagen, die mit Sirene Patienten zum nahegelegenen Krankenhaus bringen. Zudem höre ich in jeder freien Minute Musik und bin mir die Stille deshalb gar nicht mehr gewohnt, empfinde sie manchmal sogar als unangenehm. Plötzlich ist man mit seinen Gedanken ganz alleine. Das kann befreiend und inspirierend sein – oder aber beängstigend. Bewusst nehme ich mir nie Zeit für Stille. Deshalb finde ich diese «gehütete Stille» wunderbar! Um den Lärm kommen wir nicht herum. Was meinst du, kann Lärm auch positiv sein?

Karin: Nein, Tanja, Lärm ist für mich persönlich immer belastend; auf Dauer finde ich es abstumpfend, wenn man dauernd mit Geräuschen berieselt wird. Mir tun die Verkäuferinnen in den Läden leid, die das ständig ertragen müssen; auch Straßenlärm kann sehr stören. Leider kann man sich nicht immer davor schützen. Wenn ich Jogger beobachte, die Ohrenstöpsel haben, tun sie mir leid, die merken gar nicht, wie schön ein Vogel singt, wie der Wind in den Blättern raschelt oder wie der Regen rauscht. Musik, die ich mag, empfinde ich dagegen als Entspannung, lasse sie gern im Hintergrund laufen. Damit kann ich auch meine Stimmung beeinflussen! Aber ich gönne mir regelmässig eine Zeit der Stille. ☐


Schwerpunkt «Lärm»

Bild: Manuel Meister

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