«Der schlimmste Entzug dauerte eine Woche»

Die Suche nach einem Interviewpartner, der von seinen Erlebnissen mit dem Alkohol erzählt, schien aussichtslos. Nach Wochen voller Absagen und Rückschläge fand sich doch noch jemand; ein mutiger junger Mann. Er möchte anonym bleiben, denn er befindet sich auf dem besten Weg in ein neues Leben.

An einer Tramhaltestelle in Bern. Ein gepflegt aussehender junger Mann wartet auf mich. Er ist 24 Jahre alt. Auf dem Weg zur Wohnung, in der er aufgewachsen ist, treffen wir auf einen seiner Kollegen. Herzliche Begrüssung mit einem: «Alles klar?» In der Wohnung angekommen, bietet er höflich ein Glas Wasser an. Darauf fängt er an zu erzählen:

An die Sucht gekettet. – Bild: Mara Ludwig

«Als ich zum ersten Mal mit Alkohol in Kontakt kam, war ich 18 Jahre alt, bei einem Discobesuch. Es gab kein Problem, denn ich merkte schnell, wo die Grenze war. Lange Zeit trank ich nur an den Wochenenden. Dann kam aber hie und da ein Feierabendbier unter der Woche dazu, und mit der Zeit trank ich jeden Tag. Nach etwa zwei Jahren stellte ich fest, dass ich nicht mehr so zuverlässig war. Aber dass ich unterdessen süchtig geworden war, merkte ich nicht. Bei meinen Eltern leuchtete die Warnlampe früher auf, sie sprachen mich darauf an. Aber ich dachte, dass ich alles im Griff hätte. Um mir das selber zu beweisen, legte ich mal eine Pause ein und landete hart auf dem Boden der Tatsachen. Damals arbeitete ich nicht mehr. Ich war gerade mit meinem Vater zusammen, plötzlich hatte ich einen Schweissausbruch. Mir wurde schwindlig und ich fiel in Ohnmacht. Da ich eine Hirnerschütterung und einen epileptischen Anfall hatte, wurde ich ins Spital eingeliefert und erlebte meinen ersten Entzug. Danach war ich eine Zeit lang trocken, begann aber wieder zu trinken. In den letzten zweieinhalb Jahren durchlebte ich einige Entzüge. Meistens ging ich freiwillig in eine psychiatrische Klinik, aber einmal wurde ich zwangseingeliefert, weil ich im Rausch mit der Freundin in Streit geraten war und jemand die Polizei alarmiert hatte. Nach einem freiwilligen Aufenthalt in der Klinik  durfte ich jedes Mal nach zwei Wochen wieder nach Hause gehen. Der Arzt stellte bei solchen Gelegenheiten jeweils fest, dass ich gesund und stabil war. Die ersten Entzüge waren nicht schlimm. Ein Kribbeln im ganzen Körper, innere Unruhe, natürlich grosse Lust etwas zu trinken. Anfangs dauerten diese Symptome nur eine Nacht. Mit der Zeit wurde es ärger. Der schlimmste Entzug dauerte eine Woche. Ich lag auf dem Bett und zitterte, hatte Schweissausbrüche und circa 150 Puls – dauernd. Das möchte ich nie mehr erleben.

Muss die Abhängigkeit das ganze Leben prägen? – Bild: Mara Ludwig

Professionelle Hilfe tut not

Einmal probierte ich ein «Begleitetes Wohnen» aus, denn damals hatte ich keine eigene Wohnung mehr. Da kommt jemand so zweimal in der Woche vorbei und schaut, ob `noch alle am Leben sind`, also ob alles in Ordnung ist. Dort blieb ich jedoch nur zwei Wochen, weil ich wieder mit dem Trinken anfing. Nachdem ich wieder in der Klinik gelandet war, dachte ich: `Wie wär`s mit einem betreuten Wohnen, wo du enger begleitet wirst? Einem Ort, wo 24 Stunden jemand da ist? Mal schauen, wie das tut.` An einem solchen Platz bin ich nun seit knapp drei Monaten. Hier müssen wir immer wieder Atemluftkontrollen abgeben, in unregelmässigen Abständen. Auch Urinproben werden geprüft, wobei niemand weiss, wann die nächste abgegeben werden muss. Der Alkohol kann noch drei Tage im Urin nachgewiesen werden. So bin ich geschützt. Für Leute wie mich, die wirklich abstinent leben wollen, ist das perfekt. Einen Rückfall möchte ich nicht erleben.

Nur keine Diskussionen

Mein Freundeskreis hat sich stark minimiert. Jetzt habe ich zwar weniger KollegInnen als früher, aber denen kann ich vertrauen. Sie kennen meine Geschichte. Die trinken zwar, aber das stört mich nicht. Ich bin froh, wenn mich niemand zum Mitmachen auffordert. Wenn ich unter Menschen bin, die mich nicht kennen, kann es passieren, dass sie fragen: «Was, du trinkst nicht mit? Was ist los? Bist du krank?» Da antworte ich: «Habe gerade keine Lust». Oder ich behaupte sogar, dass mir schlecht sei, denn ich mag die Diskussionen nicht. Lieber greife ich zu einer Ausrede. Manche Leute fühlen sich nämlich angegriffen, wenn das Thema aufkommt, da sie sich eigentlich eingestehen müssten, dass sie selber ebenfalls süchtig sind.

Als ich beschloss, abstinent zu leben, war ich der Überzeugung, ich würde nie mehr lachen können. Neuerdings freue ich mich auf alles, was kommt. Ich freue mich über schönes Wetter, einen Vogel, der sich in die Nähe wagt, kann auch wieder lachen wegen Kleinigkeiten. Ich freue mich mega auf meine Ferien. Auch die Arbeit macht mir Spass, ich gehe motiviert hin.

Auf mein zukünftiges Leben freue ich mich ebenfalls. Erste Priorität hat: Ich will mindestens ein Jahr völlig abstinent bleiben. Ich gehe seit kurzer Zeit ins Fitness. Dabei kann ich den Kopf auslüften. Einmal möchte ich wieder eine Freundin finden und vielleicht eine Familie gründen.»

Viele Organisationen und Fachstellen nehmen sich der Abhängigen an, die Hilfe suchen. Anonyme Alkoholiker (weltweite Selbsthilfeorganisation). Blaues Kreuz (Organisation der Kirchen). Kantonale Fachstellen.