Alena: Als wir vor dem sogenannten «Fixerstübli», einer Anlaufstelle von CONTACT für Drogenabhängige in Bern stehen, schiessen mir ein paar Gedanken durch den Kopf: Wird es wohl hinter diesem Zaun so aussehen, wie ich es mir vorstelle? Ich muss ehrlich gestehen, so nahe war ich dem «Fixerstübli» noch nie. Ich habe bisher eher einen Bogen um das kleine Haus in der Nähe der Reitschule gemacht. Nun stehen Gaby und ich davor und unterhalten uns über unser Vorgehen. Da kommt uns auch schon ein sympathischer Mann entgegen. «Hallo, ihr sucht bestimmt mich, ich bin Adrian, wir haben zusammen telefoniert». Adrian Brand (35) ist hier Sozialarbeiter. Er zeigt uns das ganze Haus und beantwortet unsere Fragen.
Ein Kiosk mit sauberem
Konsummaterial
Das Haus sieht anders aus, als ich es mir vorgestellt habe. Auf mich wirkt es einladender. Es hat eine kleine Bar, an der sich die KonsumentInnen Getränke bestellen können. Für einen kleinen Geldbetrag bekommen sie hier eine Mahlzeit. Besonders gefällt mir die Frauenecke, in der ein gemütliches Sofa steht mit einem darüberhängenden Kronleuchter. Die Wand ist violett gestrichen.
Bei der Bar können die Drogenabhängigen eine Nummer ziehen. Auf einem Bildschirm leuchten die Nummern auf, sobald sie die Räumlichkeiten zum Konsumieren der Drogen betreten dürfen. Die Drogen, die sie konsumieren, bringen sie selbst mit, lediglich das «Besteck» dazu wird zur Verfügung gestellt. Diese Massnahmen sollen dazu beitragen, dass die Risiken und Folgeschäden des Drogenkonsums gemindert werden und Infektionskrankheiten vorgebeugt werden kann. Bei «SPUT» (Abkürzung von Spritzenumtausch) können sie Spritzen, Nadeln, Auflöseflüssigkeit und weiteres Konsumationshilfsmaterial im Verhältnis 1:1 tauschen oder kaufen.
Kondome werden gratis abgegeben. Prostitution ist bei den Menschen, die hier ein- und ausgehen, leider keine Seltenheit. Für mich sieht das Ganze ein wenig aus wie ein Kiosk. Die Konsumräume hingegen wirken sehr steril.
Ablageflächen aus Stahl und Spiegel, um Einstichstellen besser zu sehen, stehen bereit. Für diejenigen, die schnupfen, hat es einen Mörser, für diejenigen, die rauchen, einen Raum mit einem Dampfabzug. Pflaster und gebogene Löffel, wie man sie aus den Filmen kennt, liegen ebenfalls bereit.
Ordnung halten
Den BenutzerInnen stehen, je nach Konsumform, bestimmte Zeitfenster zur Verfügung, in welchen sie die Substanzen konsumieren können.
Dealen im Haus ist verboten. Regeln spielen auch hier eine wichtige Rolle; halten die Drogenabhängigen sie nicht ein, kann dies zu Sanktionen führen, wie dem temporären Ausschluss vom Angebot.
Wir dürfen nicht nur eine spannende Führung erleben, sondern können im Anschluss Adrian in seinem Büro die Fragen stellen, die uns unter den Nägeln brennen. Was dabei rauskommt, ist für uns sehr aufschlussreich.
Adrian Brand, wer findet den Weg zu eurer Anlaufstelle?
Adrian Brand: Zu uns kommen Menschen mit einer andauernden oder vorübergehenden Suchtmittelproblematik, welche illegale Substanzen konsumieren. Diese Menschen sind mindestens 18 Jahre alt und im Kanton Bern wohnhaft, das Berner Oberland ausgenommen. Es sind Menschen «querbeet» aus allen Schichten, welche die Anlaufstelle besuchen. Bei uns finden sie einen Ort vor, wo sie in Ruhe und mit sauberem Material ihre Substanzen konsumieren können und nicht den Stresssituationen «der Gasse» ausgeliefert sind.
Welche Substanzen werden konsumiert?
Bei uns werden vorwiegend Heroin, Kokain und verschreibungspflichtige Medikamente konsumiert. Alle diese Substanzen können geschnupft, geraucht oder gespritzt werden. Heroin war die Droge der 80er-, anfangs 90er-Jahre und zeichnete auch ein Abbild der damaligen Jugendkultur. Heute werden vermehrt leistungssteigernde Drogen konsumiert, wie Amphetamine und Kokain. Diese Substanzen können auch als Ausdruck unserer heutigen Leistungsgesellschaft verstanden werden. KonsumentInnen von Amphetaminen und anderen Partydrogen suchen unser Angebot aber weniger auf.
Wozu dient eine Drogenanlaufstelle?
Der Auftrag von CONTACT ist die Schadensminderung. Damit decken wir mit unserem Angebot eine der vier Säulen der nationalen Drogenpolitik ab: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen ist nach wie vor eine Realität. Die suchtmittelfreie Gesellschaft wird wohl eine Utopie bleiben. Aus diesem Grund gibt es Angebote wie das unsere. Ein wichtiger Punkt unserer Arbeit umfasst die Aufklärung über «safer use» sowie bei Bedarf medizinische Versorgung im Bereich der Pflege sowie psychosoziale Beratung und Begleitung. Die Anlaufstelle ist aber weit mehr als «nur» ein Ort des Konsums. Möglicherweise bieten wir für einige BenutzerInnen mit unserem Angebot auch eine Art «Wohnzimmer» an, wo soziale Kontakte gepflegt werden und auch gelacht, gestritten, gespielt, gezeichnet und diskutiert wird. Weiter stehen unseren Benutzerinnen und Benutzern eine kleine Kleiderbörse, eine Dusche sowie eine Waschmaschine zur Verfügung.
In der Cafeteria werden alkoholfreie Getränke zu kleinen Preisen angeboten und von Dienstag bis Samstag wird zudem ein reichhaltiges Menu serviert. Ein weiteres Ziel, welches die Schadensminderung beinhaltet, ist die Entlastung des öffentlichen Raums. Mit dem Angebot soll möglichst verhindert werden, dass der Konsum in öffentlichen Parks, Spielplätzen, Hauseingängen stattfindet. Darin findet sich auch der Ursprung des Angebots.
Wie kam es überhaupt zum «Fixerstübli»?
1986 wurde an der Münstergasse die weltweit erste und weitläufig als «Fixerstübli» bekannte Drogenanlaufstelle eröffnet als Antwort auf die offenen Drogenszenen und die Verelendung der betroffenen Menschen. Die Bilder von Zürich-Letten und Platzspitz sowie vom Kocherpark in Bern haben sich ins gesellschaftliche Gedächtnis eingebrannt.
Mit Angeboten wie dem unseren wurde solchen Zuständen erfolgreich entgegengewirkt. Obwohl es nach wie vor viele suchtmittelabhängige Menschen gibt, ist die Drogenproblematik heute weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und nicht mehr zuoberst auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerung zu finden.
Kann ich einer Person den Drogenkonsum eigentlich ansehen?
Ich behaupte jetzt mal, dass wir bei einem gemeinsamen Spaziergang durch den nahe gelegenen Bahnhof Bern einigen Menschen begegnen, die unsere Anlaufstelle aufsuchen und die ihr nicht als DrogenkonsumentInnen einordnen würdet. Zu uns kommen auch Menschen, die sich im ersten Arbeitsmarkt bewegen, also einer geregelten Arbeit nachgehen und in mehr oder weniger regelmässigen Abständen ihre «Folie» rauchen. Es ist nicht so, dass alle Drogenkonsumentinnen und Drogenkonsumenten «auf der Gasse» leben. Heutzutage steht abhängigen Menschen eine breite Palette an Angeboten wie Wohnhilfe, Substitutions- und Arbeitsintegrationsprogramme zur Verfügung – mit dem Ziel, dem drohenden sozialen Ausschluss entgegenzuwirken.
Wie entsteht eine Abhängigkeit?
Das ist ein vielschichtiger Prozess und hängt von äusseren Einflussfaktoren wie dem Umfeld, also von Freunden und Familie, Persönlichkeitsmerkmalen sowie der Wirkungsweise der Substanz selbst ab. Diese drei Faktoren stehen bei der Bildung einer Abhängigkeit in einer Wechselbeziehung, beeinflussen sich also gegenseitig. Zentral ist dabei, wie eine Person gelernt hat, mit Stresssituationen umzugehen und welche Lösungsstrategien jemandem in entsprechenden Situationen zur Verfügung stehen. Der Konsum von Substanzen stellt dabei ebenfalls eine Lösungsstrategie dar, um Stress aufzulösen und negative Gefühle zu beseitigen. Nur ist diese Strategie bekannterweise nicht sehr nachhaltig, jedoch sehr unmittelbar in der Wirkung. Wird die Substanz über längere Zeit eingenommen, wird diese in den Kreislauf eingebunden, was zu einer Toleranzentwicklung führt. Es braucht folglich mehr von der Droge, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Beim Fehlen der Substanz meldet sich der Körper mit Entzugserscheinungen, welchen wiederum mit der Zufuhr der Substanz begegnet wird. Ein Teufelskreis beginnt. Auf der psychischen Ebene kann eine Droge ein Mittel sein, um Probleme zu verdrängen oder sich bei schwierigen Schicksalsschlägen zu betäuben. Bei näherem Nachfragen berichten mir viele KonsumentInnen von einer schwierigen Kindheit mit Missbrauchserfahrungen – mit oder ohne Heimkarrieren. Auch Geschwisterpaare suchen unsere Anlaufstelle auf, was diese These stützen würde. Der Verlust oder die Suche nach einer Identität können ebenfalls dazu führen, dass den daraus folgenden negativen Gefühlen mit Substanzen begegnet wird. Die Substanzen werden dabei in einer Art Selbstmedikation eingesetzt, um andere Symptome zu lindern, zum Beispiel bei einer Depression oder anderen psychischen Krankheiten, wie Schizophrenie. Es ist oft so, dass Abhängigkeiten in Begleitung von psychischen Störungen auftreten. Man spricht dabei von einer Komorbidität.
Kann eine Schizophrenie auch die Folge von Drogenkonsum sein?
Da stellt sich meiner Meinung nach die Frage nach dem Huhn oder dem Ei – was war zuerst? Ich möchte mich hier auch nicht zu weit auf die Äste rauslassen, dazu bin ich nicht die richtige Fachperson. Es ist aber so, dass der Konsum von Substanzen beispielsweise Psychosen auslösen kann. Die Substanz gibt dabei sozusagen den Startschuss. Dass aber Personen, welche nicht zur Schizophrenie veranlagt sind, durch Substanzkonsum eine solche überhaupt entwickeln können, bezweifle ich. Ansonsten würden bei uns wohl viel mehr Personen mit der Diagnose Schizophrenie verkehren.
Welche Drogen führen rasch in eine Abhängigkeit?
Heroin führt relativ rasch in eine körperliche Abhängigkeit. Die Entzugssymptome fühlen sich an wie bei einer sehr starken Grippe. Kokain führt in eine psychische Abhängigkeit. Das heisst aber nicht, dass Menschen mit Kokainkonsum schneller von der Substanz wegkommen als solche, die Heroin nehmen. Auch verschreibungspflichtige Medikamente wie Benzodiazepine können relativ rasch in eine Abhängigkeit führen. Über das Abhängigkeitspotential von Cannabis, Amphetaminen, LSD und anderem kann ich nicht genau Auskunft erteilen, da wir uns hier vorwiegend mit den oben erwähnten Substanzen konfrontiert sehen. Letztendlich entscheiden aber die Häufigkeit der Zufuhr sowie die Menge der Substanz über das Potential, eine Abhängigkeit zu entwickeln. Ist die Substanz aber erst einmal in den Kreislauf eingebunden, ist es sehr schwer – sei dies psychisch oder körperlich – wieder davon loszukommen.
Gibt es schwierige Situationen bei deiner Arbeit?
Natürlich wird man an diesem Arbeitsplatz immer wieder mit tragischen Lebensgeschichten konfrontiert. Auch sind die Bilder des Konsums an sich nicht angenehm. Speziell an diesem Beruf ist, dass man Einblick in eine Art Parallelwelt erhält. Dieser Einblick ist nicht immer einfach, da zu dieser Welt auch Themen wie Gewalt, Prostitution, Kriminalität, Armut und Verwahrlosung gehören. Die grösste Herausforderung erkenne ich aber darin, dass Situationen oft so hingenommen und ausgehalten werden müssen. Eine zielorientierte Arbeitsweise ist bei dieser Klientel oft nicht möglich oder geschieht nur in ganz kleinen Schritten. Es ist ja nicht das primäre Ziel unserer Arbeit, Menschen zur Abstinenz zu motivieren. Falls jemand diesen Schritt von sich aus machen möchte, leisten wir natürlich die nötige Vernetzungsarbeit und bieten Unterstützung. Zudem ist es nicht so, dass die Arbeit mit suchtmittelabhängigen Menschen stets schwer und traurig ist. Bei uns wird auch sehr viel gelacht. In der Cafeteria steht ein «Töggelikasten», der häufig genutzt wird. Das Spiel an diesem Kasten ermöglicht beiläufige Gespräche, in denen die Drogen nicht im Zentrum stehen. Zu erwähnen ist, dass wir für einige unserer BenutzerInnen die einzigen Ansprechpersonen ausserhalb des Drogenmilieus sind. Im Vergleich zu anderen Institutionen stehen wir den Menschen, die uns aufsuchen, nahe. Wir sind per Du und versuchen den Konsumierenden stets auf Augenhöhe zu begegnen. Daneben ist es wichtig, dass das Team gut funktioniert und kommuniziert. Aus diesem Grund gibt es auch immer eine Einstiegs- und eine Abschlussrunde, wo Situationen während der Schicht angesprochen und diskutiert werden können.
Braucht es eine Anmeldung für die Anlaufstelle?
Bei uns gibt es Einlasskriterien. Man muss, wie bereits erwähnt, 18 Jahre alt sein und den Wohnort im Kanton Bern nachweisen können. Konsumentinnen und Konsumenten aus dem Berner Oberland erhalten bei uns keinen Einlass. Dieser erfordert ein Aufnahmegespräch und danach in periodischen Abständen Standortgespräche. Diese haben zum Ziel, möglichen Handlungsbedarf zu erkennen und zusammen mit den Benutzern und Benutzerinnen Interventionen zu planen und umzusetzen, falls dies gewünscht wird. Zuständig für die Einlasskontrollen sind jeweils zwei Mitarbeitende von Securitas.
Habt ihr schon Todesfälle erlebt?
In all den Jahren hatten wir vor Ort noch keinen Todesfall. Hin und wieder vernehmen wir allerdings, dass jemand verstorben ist. Das kommt vor. Ein Dilemma ist manchmal auch, dass wir oftmals nicht genau wissen, wo sich Personen aufhalten, welche regelmässig in der Anlaufstelle verkehrt haben und plötzlich nicht mehr erscheinen. Vielleicht befindet sich die Person in einer Therapie, im Gefängnis oder hat den Wohnort gewechselt. Bei uns besteht ja keine Abmeldepflicht.
Wie viele Menschen kommen zu euch?
In der Datenbank sind rund 2‘000 Personen registriert, wobei momentan um die 600 Personen die Anlaufstelle mehr oder weniger regelmässig frequentieren und als aktive Benutzerinnen und Benutzer gezählt werden. Was den Konsum betrifft, stehen wir momentan bei rund 400 Konsumationen täglich. Im Jahr 2016 wurden durchschnittlich rund 850 Spritzen täglich abgegeben.
Kommt es vor, dass die BenutzerInnen aggressiv werden, wenn sie bei euch sind, und wie verhältst du dich in einem solchen Moment?
Aggressives Verhalten kommt vor. Dieses findet in der Regel zwischen den Benutzenden statt. Gewalt gegen das Team ist höchst selten. Gegenüber dem Team kommen eher verbale Ausrutscher vor. Es gibt oft Reibereien wegen «Stoffgeschichten». Das heisst, jemand hat schlechte Substanzen verkauft oder schuldet Geld. Daneben tragen die Gruppendynamik sowie die konsumierten Substanzen dazu bei, eine gereizte Stimmung auszulösen. Droht eine Situation zu eskalieren, versuchen wir deeskalierend auf diese einzuwirken.
Arbeiten in eurem Team Frauen und Männer?
Im Moment sind mehr Frauen im Team als Männer. Im Übrigen gibt es für unsere Benutzerinnen am Montag einen Frauenabend, welcher ebenfalls von Team-Frauen geleitet wird. An diesem Abend ist die Anlaufstelle ab 19.30 Uhr für Männer geschlossen. Zwei Frauen aus unserem Team gehen auf frauenspezifische Themen ein, auch Themen wie Sexarbeit gehören dazu.
Zur Institution: CONTACT, Stiftung für Suchthilfe