Wie halten es Jung und Alt mit der Handschrift?

Früher bekamen SchülerInnen Noten für die Schönheit ihrer Schrift. Verliert die Handschrift heute an Wichtigkeit? Über Graphologie, den schönen Gedanken und verkrampfte Hände.

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Illustration: Blanca Thurian

Elias Rüegsegger (23), Telsche Keese (79)

Telsche: Du bist mit dem Computer gross geworden, ich höre noch meinen Griffel über meine Schiefertafel kratzen und bekam in Schönschrift im Zeugnis eine Note. Was sagst du dazu?

Elias: Du bist vielleicht überrascht, aber: An einige qualvolle Stunden Schönschreiben in der Schule kann ich mich auch noch erinnern. Vor allem weil es in meinem Fall so sinn- wie aussichtslos war: Die sanften, schönen, schwungvollen Kalligraphien, die andere anfertigten, gelangen mir mit meinen klobigen Fingern und der Feinmotorik eines Dreijährigen nicht. Zudem schrieb ich schon früher lieber am Computer. Sind das gute Erinnerungen, die du an deinen Griffel hast?

Telsche: Ja. Ich hatte bei meinen älteren Geschwistern gesehen, dass sie die Buckel und Geraden üben mussten, bis sie leserlich waren. Das lernte man in der Schule. Was ist aus deiner Schrift geworden? Du brauchst sie in der Uni doch nur noch, um auf Prüfungspapieren mit deinem Namen deine Identität zu beweisen.

Elias: Ich habe eine wüste Handschrift, die keiner lesen kann. Manchmal nicht einmal ich. Wohl liegt es am fehlenden Training, sicher am nicht vorhandenen Willen, mehr als nötig von Hand zu schreiben.

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„Eine wüste Handschrift“. – Handschrift: Elias Rüegsegger

Im Rückblick war für mich die Schnürlischrift, die ich noch lernen musste, nicht gerade sinnvoll. Noch verkrampfter, noch steifer wurde meine Hand. Eine eigene Handschrift hätte ich heute wohl besser entfalten können: SchülerInnen lernen die Basisschrift und verbinden nicht mehr alle Buchstaben miteinander. Manche sagen ja, Handschriften sagen etwas über die Persönlichkeit des Stifthalters aus: Graphologie nennt sich das. Kannst du dem etwas abgewinnen?

Telsche: Graphologen dürfen bei einer Bewerbung zum Glück nicht mehr mitmischen, aber deine Handschrift  ist deine persönliche Spur. Du gestaltest mit wechselndem Druck deiner Hand das Auf und Ab und formst mit dem dir eigenen Schwung ein dir eigenes dynamisches Bild. Sogar deine Stimmung kann einfliessen. Nur das können Schriftbilder wiederspiegeln. Ich mag gerne auf Papier schreiben. Hat das nicht etwas Künstlerisches, jeder sein eigener Künstler? Das Tippen auf eine Tastatur löst den Druck eines vorgeformten Buchstabens aus, das Individuelle geht dabei verloren. Natürlich ist die Basisschrift geeigneter für Tastaturen.

Elias: Wenn ich eine handschriftliche Bewerbung schreiben müsste und diese von einer Graphologin geprüft würde, käme ich wohl kaum zu einer Stelle. Ich glaube nicht, dass meine Schrift etwas über meinen Charakter aussagt – das hoffe ich zumindest, und zwar inständig. Meine Handschrift muss einfach gerade so tauglich sein, dass ich sie lesen kann. Wenn ich mich künstlerisch verwirklichen will, investiere ich in die Sprache, die Poesie, aber doch nicht in meine Handschrift. Es geht um den schönen Gedanken – nicht um die schöne Schrift – oder nicht?

Telsche: Das ist doch klar, es kommt auf den Inhalt an, auf das Formulieren eines «schönen» Gedankens und das kostet Zeit. Beim Schreiben mit der Hand denken wir nach und kontrollieren auch Genauigkeit und den Umgang mit den Wörtern.

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Handschrift: Telsche Keese

Wenn wir mit der Tastatur etwas mitteilen, muss es sehr schnell gehen, da liegt es nahe, dass wir nachlässig formulieren und nicht lange nachdenken. Aus den Augen, aus dem Sinn. Handschriftliche Notizen haften besser im Gedächtnis, sagen die Fachleute.

Elias: Auch hier entgegne ich dir: Wenn ich einen Tweet absetze, also 140 Zeichen für alle Welt sichtbar mache, ist das gar nicht so einfach. Versuche mal in 140 Zeichen eine prägnante Botschaft zu platzieren. Der Gedanke, den du da vermitteln willst, muss auch mehrere Male geschliffen werden. Aber natürlich: Alles lässt sich in 140 Zeichen nicht sagen und viele überlegen sich da auch nicht viel. Und manchmal sehne ich mich nach einem leeren Blatt Papier, einem Bleistift: das jungfräuliche Weiss des Papiers, das meine Fantasie anregt. Ein Hauch von Schöpfungskraft durchströmt einen, die Idee, etwas verändern zu können, erfasst mich. Diese Momente droht der digitale Monitor vielleicht zu verschlucken. Aber wenn ich dann mal meinen kreativen Erguss auf Papier überarbeiten will, dann setze ich mich an den Computer und tippe ab, überarbeite – lasse gegenlesen.
Mal angenommen, in 20 Jahren schreibt niemand mehr von Hand – unsere Gedanken lassen sich direkt in Text umwandeln, den wir digital erfassen: Was ginge verloren, und welche Chancen gäbe es? Was geschähe mit der unverwechselbaren «Handschrift»?

Telsche: Es geschähe leider nichts, es wäre «nur» ein weiterer Verlust unserer schöpferisch handwerklichen Geschicklichkeit und damit eine Verarmung. Wir opfern sie der Kurzatmigkeit unserer Zeit. Was aber schlimmer wäre, wenn «Twitter und Co» mit ihrer Nichtachtung des grammatischen Regelwerks unsere gemeinsame Sprache durch Schlamperei überwuchern würden. Tippen und Wischen spart Zeit, präzis Formulieren und Aufschreiben dauert lange.
«Gehirnströme ablesen und direkt digitalisieren»! Diesen Fortschrittsglauben habe ich nicht, die tausende Geistesblitze über unseren Synapsenverbindungen sind zu komplex.
Zum Schluss noch etwas Lustiges: Als ich neulich meinem Sohn mailte, zischte mir das Korrektursystem dazwischen: Ich schrieb ihm
plötzlich: «Viele Grüsse, deine MUMIE», hätte ich mit einem Stift geschrieben, wäre mir das nicht passiert.


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