RABBITHOLE  –  Ich denke anders, doch ich schätze dich

RABBITHOLE  –  Ich denke anders, doch ich schätze dich

Alice fällt im Märchen «Alice im Wunderland» in ein Hasenloch und taucht ganz unten in einer neuen Welt mit andern Gesetzmässigkeiten wieder auf. Lara Pretz nutzt das Märchen in ihrem Kurzfilm «Rabbithole» als Bild für ihren Versuch, in die Welt ihrer evangelikal glaubenden Stieftante einzutauchen.

Lara und die bibelfeste Grosstante – Bild: Lara Pretz

Wir lesen es immer wieder: Wir stecken in unserer «bubble», in der Blase unserer eigenen Gedankenwelt, fest. Immer weniger seien wir imstande, heisst es, den Kontakt zu jenen zu finden, die in einer andern «bubble» leben. Und so würden wir geistig verarmen.

Lara Pretz (23) studiert audiovisuelle Medien an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie hat den Versuch gewagt, ihre «bubble» zu überschreiten. Als Atheistin, wie sie sich selber nennt, will sie eintauchen in die Welt ihrer Stieftante, die ganz überzeugt ihren evangelikalen Glauben lebt. Lara ist keine kämpferische Atheistin. Sie hat einfach keinen Bezug zu Gott. Das katholische Internat, in dem sie als Mädchen lebte, hat sie von der Religion nicht überzeugt. Nun will sie auf die Tante zugehen, die ihren Glauben evangelikal lebt. Einfach wird es nicht sein, fürchtet sie. 

Da es ihr Berufsziel ist, Filme zu schaffen, wählt sie als Methode der Annährung den Film. Sie dreht einen Kurzfilm, dem sie den Namen «RABBITHOLE» gibt und der die Begegnung mit ihrer Stieftante dokumentieren soll. Dieser Film wird gleichzeitig die Abschlussarbeit für ihren Bachelor im Studium sein.

Lara und Marina verstehen sich. – Bild: Lara Pretz

Marina, die evangelikale Stieftante

Marina, Laras Stieftante, wohnt in Wien. Sie ist Lehrerin und gleichzeitig engagiertes Mitglied der Pfingstgemeinde «4corners». Sie erweckt den Eindruck einer intelligenten, selbstbewussten Frau, die ganz erfüllt ist von ihrem christlichen Glauben. Anfangs hat Lara Mühe zu verstehen, wie eine so gescheite Frau noch glauben kann, die Welt sei in sieben Tagen erschaffen worden. Doch die Begegnung verläuft herzlich, authentisch und verständnisvoll.

Anfangs ist Lara überrumpelt von der grossen Emotionalität von Marinas Aussagen. Gott ist für Marina nicht einfach eine Überzeugung, sondern starke Ergriffenheit. In Jesus sei Gott in ihr Herz gekommen, sagt sie. Tränen der Rührung bewegen sie, wenn sie davon spricht. Lara fragt sich, worauf sich wohl Marinas starker Glaube gründet. Sicher ist es die Bibel, auf die sie sich abstützt, aber ganz besonders ist es ihr persönliches Erleben. Ja, wie erlebt sie denn Gott, will Lara wissen. Nur zweimal habe sie Gott in der Form einer Stimme gehört, antwortet Marina. Meist waren es einfach Gedankenblitze, die ihr zufielen und die für ihr Leben bedeutend wurden. Lara ist beeindruckt.

Die Pfingstgemeinde

Marina hat keine Hemmungen, auf der Strasse Leute anzusprechen. «Guten Tag, hat Gott auch schon zu Ihnen gesprochen?» Erstaunlich, wie die Leute auf ihre Frage einsteigen. Etwas mulmig ist Lara schon dabei. Aber offenbar kann Marina das. Sie tue es jeden Tag, seit 30 Jahren.

Die Szene wechselt zum Gottesdienst der Pfingstgemeinde. Die Gläubigen bewegen sich, heben die Hände hoch, singen. Auch Marina macht mit. Lara fühlt sich unwohl in ihrer Rolle als Beobachterin eines intimen Vorgangs. Was sie beeindruckt, ist die Energie, mit der das Ganze abläuft, ganz anders als die Gottesdienste in ihrer Schulzeit. Ungemütlich wird ihr erst, als ein englischsprachiger Heiler den Leuten mit viel Pathos die Hände auflegt. Gibt es in dieser Versammlung wohl Heilung? Möglich, in der Medizin spricht man ja auch von Placebo, der Erfahrung, dass glauben hilft.

«Wenn Gott alles bestimmt, wie steht es dann mit meiner Selbstverantwortung?», fragt Lara gegen Schluss des Films. Auch hier weiss Marina Antwort: «Die Verantwortung bleibt, aber Gott macht mehr aus dem, was ich tue. Man geht mit einem andern Bewusstsein ans Handeln» – «Und die Keuschheit vor der Ehe?», will Lara weiter wissen. «Geht mir da die Eigenverantwortung nicht verloren?» – «Selbstbeherrschung braucht es immer», antwortet Marina. «Wenn wir uns nicht selbst beherrschen können, beherrscht uns etwas anderes, zum Beispiel der Leistungsdruck.»

Lara wird nachdenklich. – Bild: Lara Pretz

Verstehen, auch wenn ich anders denke

Lara ist verwirrt. Bin ich also doch nicht so selbstbestimmt? Antworten, die sie nie geteilt hätte, kommen von ihrer Tante so überzeugend daher. Schliesslich gelangt sie zur Einsicht: «Ich verstehe den christlichen Glauben nicht, aber ich verstehe, wie viel er Marina gibt.» Die Öffnung der «bubble» ist Lara offensichtlich gelungen. Sie bleibt weitgehend bei ihrer Überzeugung, öffnet sich aber wohlwollend der Welt Marinas, versteht sie, anerkennt ihre Bedeutung. 

Filmisch ist ein dichtes, aus kleinen Sequenzen klug aufgebautes, anregendes Werk entstanden. In zwanzig Minuten werden lebensnahe Themen berührend angesprochen. Ich als Zuschauer bin beeindruckt und frage mich, wie mir selber solche Ausflüge aus meiner «bubble» mehr als bisher gelingen könnten.

Tiefere Einblicke in Laras Erlebnisse gibt es auf ihrem Instagram Channel

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