
Wo früher Hunderte von OccasionsAutos zum Verkauf angeboten wurden, leben seit Herbst 2020 über 450 Menschen in 6 Häusern mit insgesamt 183 Wohnungen. Hier experimentieren renditeorientierte Investoren pionierhaft mit «sozialer Siedlungsorganisation», mit einem «Hauswart Plus»-Modell sowie mit «Siedlungscoaching». Inwiefern zahlt sich das für die Investoren aus? Und wie wohl fühlen sich die Bewohnenden damit? Eine Spurensuche.
Mittwoch, 22.05.2024
20. April 2024: Ein kalter, regnerischer Samstag. Im Rahmen des Fachseminars «Siedlungscoaching und Siedlungsorganisation» der Hochschule Luzern besichtigen 27 TeilnehmerInnen, darunter ein Vertreter des UND Generationentandems, und 2 Dozentinnen die Stadtsiedlung Reitmen in Schlieren. Die Teilnehmenden interessiert die Frage, inwieweit das im Trend liegende Konzept der «sozialen Siedlungsorganisation» in einer von renditeorientierten Investoren finanzierten Siedlung umgesetzt wurde.
Doch zuerst – was ist das überhaupt, soziale Siedlungsorganisation? Soziale Siedlungsorganisation ist gewissermassen ein Gegenentwurf zur anonymen Siedlung, in der nur die elementaren Wohnbedürfnisse, aber keine sozialen Bedürfnisse abgedeckt werden: wo die Bewohnenden kaum ihre direkten Nachbar:innen kennen und wo jeder Konflikt über die Verwaltung ausgefochten wird. In einer sozial organisierten Siedlung…
Die Besichtigung beginnt im grossräumigen Gemeinschaftsraum, der von allen Bewohnenden gegen eine moderate Gebühr ( 7.50 Franken pro Stunde) gebucht werden kann und dank Küche, Mobiliar und viel Stauraum für verschiedene Anlässe genutzt werden kann.
Die gut ausgerüstete Werkstatt wird von rund einem Dutzend Bewohnenden regelmässig genutzt. Den Zutritts-Badge erhält man gegen ein Depot von Fr. 250.- und nach einer aus Sicherheitsgründen notwendigen Einführung in die Handhabung der verschiedenen Geräte.
Eines der sechs Häuser verfügt über einen Waschsalon im Erdgeschoss, wo man nicht nur wäscht, sondern sich auch auf einen Schwatz trifft und den Kindern im Freien beim Spielen zusieht. In den restlichen Häusern befinden sich die Waschmaschinen in den Wohnungen.



Viele Räumlichkeiten werden gemeinsam genutzt: So entstehen auch immer Begegnungsmöglichkeiten.
– Bilder: Tom Ammann
Die eigentliche Begegnungszone für die Bewohnenden ist jedoch der grosszügige und parkähnlich gestaltete Aussenraum. Zu diesem gehören Spielplätze, Bodentrampoline und ein Pingpongtisch, ein Wasserspiel und ein Auenwäldchen, Loungesessel und ein Grillplatz, ein Gemeinschaftsgarten und ein Bienenschaukasten. Die gemeinschaftlichen Gartenbeete sind so beliebt, dass die Verwaltung zusätzlich Hochbeete anlegen liess. Die Nutzung des Gemeinschaftsgartens ist kostenlos.
Und wie funktioniert das nun mit dem «Hauswart Plus» und dem «Siedlungscoaching»? Dies konnten die Teilnehmer:innen nach der Besichtigung im direkten Gespräch mit zwei Anwohnerinnen, mit dem Hauswart, mit der Siedlungscoachin, mit einer Vertreterin der Verwaltung sowie einem Vertreter der Wohnbauträger erfahren.
Roger Wigger, der Leiter des Teams von drei Hauswarten, erklärt zunächst seine grundlegenden Aufgaben: Pflege der Aussenanlagen, Reinigung der Treppenhäuser und Korridore, Wartung der technischen Anlagen, Aufbieten von Handwerkern usw. Das Büro des Hauswarts ist werktags von 7:30 bis 16:30 Uhr geöffnet. Weil die drei Hauswarte fest von der Verwaltung engagiert sind, sind sie allen Bewohnern persönlich bekannt und aufgrund ihrer Hilfsbereitschaft auch sehr geschätzt («die guten Seelen»).
Auf die Frage, worauf sich denn nun das «Plus» in dem Hauswartmodell bezieht, antwortet Roger Wigger zurückhaltend. Er persönlich hätte sich gerne mit deutlich mehr Dienstleistungen in die Siedlung eingebracht, was jedoch im Widerspruch gestanden wäre zum Konzept der sozialen Siedlungsorganisation, bei dem eben die Idee ist, dass sich auch die Bewohnenden engagieren und um die Angelegenheiten der Siedlung kümmern.
Das «Plus» besteht somit ‘nur’ noch aus (1) der Neumieter-Einführung, die auch die Handhabung der Siedlungs-App miteinschliesst, sowie (2) der regelmässigen Organisation eines Sondermüll-Entsorgungstags. Dass die Hauswarte zudem aufgrund ihrer Präsenz, ihrer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit auch viel zum guten Ambiente in der Siedlung beitragen, geschieht gewissermassen nebenher.
Die Mitwirkung der Siedlungscoachin Katarina Barandun begann bereits bei der Konzeption beziehungsweise Planungsphase der Siedlung. Sie achtete von Beginn weg darauf, dass verschiedene Aussen- und Innenräume geschaffen werden, wo Menschen sich auf natürliche Weise begegnen und die auch niederschwellig und praktisch nutzbar sind.
Nach der Fertigstellung der Siedlung lag der Fokus ihrer Tätigkeit auf der Organisation von Umfragen und Workshops, bei der die Bewohnenden ihre Bedürfnisse und Mitwirkungs-Wünsche einbringen konnten, welche in verschiedene Angebote mündeten, die nun von den Bewohnenden erbracht werden – zum Beispiel Yogagruppe, Spielabend, Gartengruppe, Siedlungsfest, Velowerkstatt. Katarina sorgt mit ihrer Arbeit vor allem für einen engen Kontakt und Austausch unter den Bewohnenden, was aus ihrer Sicht eine wichtige Voraussetzung für spontane Nachbarschaftshilfe ist und zudem den sehr erwünschten Effekt hat, dass weniger Konflikte entstehen – und wo sie doch entstehen, steht Katarina als Mediatorin zur Verfügung.
Alle Bewohner:innen der Reitmen-Siedlung müssen auf dem Handy die auf Allthings (allthings.me) basierende Regimo-Siedlungsapp installieren. Die App ist ursprünglich wohl in erster Linie aus Gründen der Prozessoptimierung und der Effizienzsteigerung im Verhältnis zwischen Verwaltung und Mietern eingeführt worden (Dialog zwischen Verwaltung und Mietern, Handling von Schadenfällen, Vertragsmanagement, Dokumentablage, Reservation von Gemeinschaftsräumen etc.). Weil man sich mit der App jedoch auch mit allen Nachbarn vernetzen, sich in Gruppen organisieren und Informationen austauschen kann, leistet sie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Siedlungsleben und ist aus dem Alltag der Bewohnenden nicht mehr wegzudenken. Das wahre Potential der Digitalisierung in Siedlungen ist damit aber vermutlich noch lange nicht ausgeschöpft und auf die weitere Entwicklung darf man gespannt sein.
Ist der Balanceakt zwischen Renditeorientierung und sozialer Siedlungsorganisation geglückt? Dem Anschein nach ja. Offensichtlich schliessen sich diese beiden Konzepte nicht gegenseitig aus, denn obwohl die Siedlung klar definierten Renditezielen der Investoren (zwei Pensionskassen) unterworfen ist, äussern sich alle im Gemeinschaftsraum anwesenden VertreterInnen der Bewohnenden, der Verwaltung, der Portfoliobewirtschaftung, der Hauswartung sowie auch die Siedlungscoachin sehr zufrieden über die sozialen Qualitäten der Reitmen-Siedlung. Ausdrücklich erwähnt werden:
Also «alles paletti»? Natürlich nicht. Auch in der Reitmen-Siedlung werden gelegentlich Abfälle achtlos liegengelassen und ‘verirren’ sich regelmässig fremde Hunde in die parkähnliche Aussenanlage, um dort ihr Geschäft zu verrichten. Diese Probleme kennen andere Siedlungen jedoch auch und stehen auch nicht im Fokus der sozialen Siedlungsorganisation – sondern die Gestaltung eines guten Zusammenlebens.
Ein bisschen Erziehung zur Ordnung ist bei Reitmen allerdings schon mit dabei: Nicht ordentlich versorgte Fahrräder, Scooter usw. werden vom Hauswart weggesperrt und können gegen eine Entschädigung von Fr. 20.- oder gegen eine Stunde soziale Arbeit wieder ausgelöst werden. Die TeilnehmerInnen der Besichtigung waren sich darin einig, dass die Fr. 20.- abgeschafft werden sollten… 😉