
Im Hauptsitz der Stiftung TRANSfair diskutierte das Generationenforum, ob ein inklusiver Arbeitsmarkt in der Schweiz Realität werden kann. Es war ein lebendiger Abend mit engagierten Stimmen und eindrücklichen Geschichten – und doch wurde deutlich: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke. Fehlende Modelle, knappe Mittel und wenig Mut zur Innovation bremsen den Wandel.
«Arbeitsmarkt für alle – Utopie oder Realität?» – unter dieser Leitfrage fand am 27. August 2025 das dritte Generationenforum des Jahres statt. Austragungsort war die Stiftung TRANSfair in Thun, selbst ein zentraler Akteur der Arbeitsintegration. Der Rahmen hätte also kaum passender sein können. Es war ein Abend voller engagierter Stimmen und offener Gespräche – getragen von einer Atmosphäre, die kritisch nachfragte und zugleich ermutigende Perspektiven eröffnete.
Seit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz im Jahr 2014 steht das Ziel klar: Alle Menschen sollen Zugang zu Arbeit, Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe haben. Doch wie weit ist man davon entfernt? Die Diskussion auf dem Podium – moderiert von Tabea Keller (26), die klug nachhakte und den Abend in ruhiger Klarheit führte – machte deutlich: Zwischen Anspruch und Realität klafft eine Lücke.
Auf dem Podium standen Claudia Hirsig (Unternehmerin), Sabine Anthon (Jobcoach bei TRANSfair), Fabienne Marques (Blindspot) und Marc Vogt (IV). Ergänzt wurde die Runde durch zwei persönliche Gespräche mit Marc Sommer und Jennifer Ritschard, die offen von ihrem Weg zurück ins Berufsleben erzählten.
Das Gespräch zeigte, wie vielschichtig das Thema ist: Die IV denkt in Prozessen und Taggeldern, TRANSfair in Trainingsfeldern für Belastbarkeit, Blindspot in innovativen Settings – und die Wirtschaft in Rentabilität.
Immer wieder betonten die Gäste: Arbeit ist mehr als Broterwerb. Sie strukturiert den Alltag, stiftet Sinn und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Doch nicht alle können die Leistungserwartungen des ersten Arbeitsmarktes erfüllen.
Dafür existiert der zweite Arbeitsmarkt – ein geschützter Rahmen, in dem Menschen ihre Belastbarkeit langsam wieder aufbauen. «Es ist ein Trainingscamp», sagt Sabine Anthon. Die Erfolge sind sichtbar, aber der Druck auch: Innerhalb weniger Monate muss geklärt werden, ob jemand wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden kann.
Claudia Hirsig nimmt seit Jahren Praktikant:innen aus Integrationsprogrammen auf. Für sie ist klar: Alle werden gleich behandelt. Doch sie verschweigt nicht die Schwierigkeiten: Wenn in einem kleinen Team mehrere Personen gleichzeitig ausfallen, geraten Abläufe ins Stocken. «Das geht einfach nicht», sagt sie ehrlich.
Ihr Befund ist klar: Die Wirtschaft nimmt die Verantwortung zu wenig wahr – nicht aus bösem Willen, sondern weil Berührungspunkte fehlen. Viele Unternehmer:innen – und auch die Gesellschaft insgesamt – wissen kaum, dass es neben dem klassischen Arbeitsmarkt alternative Modelle gibt.
Trotz aller Schwierigkeiten plädiert Claudia Hirsig für Pragmatismus: «Es kann uns allen passieren», sagt sie – und erinnert daran, dass nur dort etwas entsteht, wo auch gehandelt wird. «Wenn man nichts macht, passiert auch nichts.»
Fabienne Marques stellte Blindspot vor, eine Stiftung, die Gastronomiebetriebe mit inklusiven Teams führt. Ihr Ansatz: Leistung wird nicht individuell gemessen, sondern im Team. «Das Team muss 100 Prozent bringen – nicht jede einzelne Person», erklärte sie.
Das Modell schafft ein besonderes Arbeitsklima: Vielfalt wird zur Stärke, Unterschiede ergänzen sich. Gerade für Menschen mit kognitiven Einschränkungen eröffnet es Chancen, die sie im regulären Arbeitsmarkt kaum hätten. Und auch bei psychischen Erkrankungen zeigt sich: Mit den richtigen Strukturen, Coaches und Offenheit sind Wege möglich, die sonst schnell verbaut wären.
Fabienne Marques’ Fazit: Inklusion braucht nicht nur guten Willen, sondern Rahmenbedingungen, die sie ermöglichen. Blindspot zeigt, dass solche Strukturen machbar sind – wenn der Mut da ist, neue Wege zu gehen.
Während auf dem Podium viel von Strukturen und Prozessen die Rede war, lebt UND Generationentandem einen unkomplizierteren Ansatz: Arbeitsintegration nicht im «ersten» oder «zweiten» Arbeitsmarkt, sondern direkt im Verein.
In Zusammenarbeit mit Institutionen wie der SILEA beschäftigt der Verein Menschen mit Behinderungen – drei im Büro, zwei bis fünf in der Gastronomie des Begegnungszentrums. Nicht die Einzelne muss 100 Prozent leisten, sondern das Team als Ganzes – ein Grundsatz, den UND Generationentandem mit Blindspot teilt.
Das Besondere: Hier zählt weniger die strenge Leistungsmessung als die soziale Teilhabe. Menschen arbeiten so, wie es für sie passt – nach ihren Fähigkeiten, ihrem Tempo und ihren Interessen. Kooperationen mit grösseren Institutionen tragen gewisse Kosten, doch das Grundprinzip bleibt: Arbeit als Teilhabe, nicht als Leistungsnachweis.
Am stärksten wurde der Abend dort, wo nicht über Betroffene gesprochen wurde, sondern wo sie selbst zu Wort kamen. Die beiden 1:1-Gespräche mit Marc Sommer und Jennifer Ritschard machten greifbar, wie komplex, aber auch möglich ein Weg zurück ins Arbeitsleben sein kann.
Ein Nervenzusammenbruch riss den gelernten Konditor und Versicherungsberater aus seinem Alltag. Bei TRANSfair begann er mit einem Arbeitspensum von 20 Prozent: zwei Stunden am Morgen, danach völlige Erschöpfung. Schritt für Schritt baute er sich wieder auf. Heute arbeitet er beim Bundesamt für Zivildienst. Seine wichtigste Erkenntnis: «Sie sind nicht deine Gegner, sie sind deine Freunde» – über Coaches, Fachleute und Familie, die ihn getragen haben.
Auch Jennifer Ritschard, Sozialpädagogin, erlebte eine tiefe Krise. Nach einer Erschöpfungsdepression, Klinik und Tagesklinik wagte sie bewusst den Einstieg im zweiten Arbeitsmarkt. Über den Gartenbau fand sie Schritt für Schritt zurück in den sozialen Bereich – heute ist sie Jobcoach bei Avantos. Ihr grösster Lernschritt: den Perfektionismus loszulassen und Zwischentöne zuzulassen. «Früher dachte ich schwarz-weiss – heute erlaube ich mir Abstufungen», sagte sie.
Krise und Unterbruch
Eine gesundheitliche oder psychische Belastung macht die bisherige Arbeit unmöglich.
Anmeldung bei der IV
Betroffene oder Arbeitgeber:innen melden sich. Die IV prüft Möglichkeiten der Frühintervention
Integrationsmassnahmen
Einstieg in ein geschütztes Setting (zum Beispiel: TRANSfair), oft mit reduziertem Pensum und klarer Struktur.
Aufbauphase
Schrittweise Steigerung des Pensums, begleitet durch Coaching und wöchentliche Standortgespräche.
Praktika und Erprobung
Ausprobieren verschiedener Tätigkeiten, um Stärken und Grenzen zu erkennen.
Zielvereinbarung
Zusammen mit IV und Jobcoach wird festgelegt, ob eine Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt realistisch ist.
Anschlusslösung
Gelingt der Einstieg, erfolgt die Anstellung im ersten Arbeitsmarkt – manchmal direkt, manchmal über Zwischenstationen.
Wenn es nicht reicht
Bleiben gesundheitliche Einschränkungen, kann eine IV-Rente oder eine langfristige Tätigkeit im zweiten Arbeitsmarkt die Lösung sein.
So eindrücklich die Geschichten, so offen die Fragen. Im Kern zeigte das Generationenforum vor allem eines: Wirklich neue Modelle sind rar. Die IV verweist auf bestehende Instrumente, TRANSfair auf bewährte Prozesse, Blindspot auf Pionierprojekte. Damit wird Wichtiges geleistet – doch der grosse Wurf blieb aus.
Ein Blick über die Grenze zeigt allerdings: Es geht auch anders.
Die Lehre aus diesen Beispielen: Inklusion gelingt nur, wenn (1) das Produktivitätsrisiko systematisch geteilt wird, (2) Jobcoaching direkt am Arbeitsplatz verankert ist und (3) Unternehmen einfachen Zugang zu Unterstützung haben. Genau daran mangelt es hierzulande – noch.
Besonders deutlich machte es Claudia Hirsig: Solange Firmen wirtschaftlich denken müssen, braucht es finanzielle Unterstützung. «Wenn jemand 100 Prozent anwesend ist, aber nur 80 Prozent leisten kann – wer trägt die Differenz?» Eine berechtigte Frage, auf die niemand eine überzeugende Antwort hatte – auch wenn alle Beteiligten bemüht waren, unterschiedliche Ansätze aufzuzeigen: Marc Vogt von der IV verwies auf Taggelder und Renten, Fabienne Marques auf Sensibilisierung, Sabine Anthon auf Geduld.
Ein Punkt aus dem Publikumsgespräch brachte eine grössere Perspektive ins Spiel: Wenn schon Kinder früh in Sonder- und Kleinklassen separiert werden, entstehen Berührungsängste, die später in der Wirtschaft weiterwirken. Sensibilisierung bedeutet nicht nur, Arbeitgeber:innen fit für Vielfalt zu machen – sie beginnt schon in der Schule. Wer früh erlebt, dass Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen selbstverständlich zusammen lernen und arbeiten, trägt dieses Verständnis auch später in die Berufswelt.
Blindspot erzählte von seinem inklusiven Sommerlager, in dem Kinder mit und ohne Behinderung zusammenleben. Anfangs herrscht Unsicherheit, am Ende entstehen Freundschaften. Die Botschaft: Inklusion muss von klein auf gelebt werden – nicht erst am Arbeitsplatz.
Strukturen fehlen, die Finanzierung ist ungelöst, der Mut zur Innovation überschaubar. Ohne Sensibilisierung in Wirtschaft, Schule und Gesellschaft bleibt Inklusion abstrakt. Gleichzeitig war es ein Abend mit engagierten Podiumsgästen, persönlichen Geschichten, einer mehr als souveränen Moderation und einem Publikum, das aufmerksam mitdachte. Gerade weil viele Fragen offenblieben, bot das Generationenforum wichtige Denkanstösse.
… und doch blieb der Eindruck: Inklusion ist ein grosses Ziel – aber noch zu oft mehr Vision als Wirklichkeit.