Neun Monate im All

Neun Monate im All

Zwei Frauen und vier Männer aus unterschiedlichen Nationen arbeiten, essen und schlafen zusammengepfercht in der Internationalen Raumstation. Neun Monate wollen sie es aushalten, schwerelos im All.

Leidenschaft prägt viele Berufe – manche mehr als andere. Wer Ärztin, Musiker oder Forscherin wird, bringt Hingabe mit. Doch wenige Berufe verlangen so viel Opferbereitschaft wie jener der Astronaut:innen. In «Umlaufbahnen» von Samantha Harvey (2024), einem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman, wird dieses extreme Leben eingefangen: eine Existenz fernab der Erde, geprägt von Entbehrung, wissenschaftlicher Neugier und der Faszination des Unbekannten. Die Raumstation, die mit atemberaubender Geschwindigkeit die Erde umkreist, wird zum temporären Zuhause. Hier, im Grenzbereich menschlicher Belastbarkeit, zeigt sich, was es bedeutet, für eine Passion zu leben – und welchen Preis sie fordert.

In Schwerelosigkeit

Der Astronaut: Wanderer im grenzenlosen Himmel, der die Erde mit staunenden Augen betrachtet.
Bild: NASA

Ihre Raumstation rast mit über 27’000 Kilometern pro Stunde in nur 90 Minuten um die Erde. Die Fliehkraft gleicht die Anziehungskraft der Erde aus, sodass sich die Astronaut:innen ständig in einem freien Fall befinden, der sich wie Schwerelosigkeit anfühlt. Sie erleben an jedem Erdentag 16 Sonnenauf- und -untergänge – eine Erfahrung, die sie völlig orientierungslos machen würde, hielten sie sich nicht mithilfe ihrer Uhren an den irdischen Tag-Nacht-Rhythmus. Trotz täglich zwei Stunden intensiven Körpertrainings bilden sich ihre Muskeln langsam zurück, und ihre Herzen werden kleiner. Die Schwerelosigkeit führt häufig zu Kopfschmerzen, weshalb sie ihre Gehirne regelmässig scannen und die Daten an die Bodenstation übermitteln müssen. Gedanken an den körperlichen Abbau versuchen sie zu verdrängen, um nicht in Schwermut zu verfallen.

Tagtäglich werden sie von Kameras überwacht, tragen einen Bildschirm bei sich und müssen darauf achten, dass nichts unkontrolliert durch die Raumstation schwebt. Sie trinken aus Schnabeltassen und essen aus Beuteln, damit keine Nahrungsteilchen im All umherschwirren. Ihre Schlafsäcke sind an der Wand befestigt, um zu verhindern, dass sie schlafend umhertreiben und anstossen.

«Brutal ist das Leben hier – unmenschlich, überwältigend, einsam, aussergewöhnlich und grossartig.» Am Anfang der neun Monate kämpfen die Astronaut:innen mit starkem Heimweh und der Sehnsucht nach ihren Angehörigen. Doch mit der Zeit wachsen die leidenschaftlichen Abenteurer:innen zu einer Ersatzfamilie zusammen. Die sechs Erwachsenen sind ganz aufeinander angewiesen: Sie sind Gefährt:innen, Ärzte:innen, Friseur:innen und Haushälter:innen in einem, denn es gibt niemanden sonst, der für sie sorgen könnte.

Brutal ist das Leben hier – unmenschlich, überwältigend, einsam, aussergewöhnlich und grossartig.

Matthias Maurer ESA-Astronaut

Arbeit im All

Täglich müssen sie bestimmte Regionen der Erde fotografieren, zum Beispiel Stürme, die sich zu Taifunen entwickeln. Dabei bestaunen sie die Schönheit des Planeten – auch wenn sie weder Menschen noch Tiere erkennen können, da die Distanz von 400 Kilometern zu gross ist. Die Weite des Universums, der leuchtende Mond und die Millionen Sterne beeindrucken sie zunehmend. Schliesslich wird die Vorstellung, zur Erde zurückzukehren, immer fremder – so faszinierend ist das Leben im All.

Alle Astronaut:innen führen wissenschaftliche Experimente durch:

Pietro überwacht Mikroben, um mehr über Viren, Pilze und Bakterien zu erfahren.

Chi beobachtet ihre Proteinkristall-Zucht.

Shaun untersucht Schotenkresse, um herauszufinden, wie Pflanzenwurzeln ohne Schwerkraft und Licht wachsen.

Chi und Nell kümmern sich um vierzig Mäuse und messen Werte zum Muskelschwund im All. Viele der Tiere werden sterben.

Roman und Anton warten den russischen Sauerstoffgenerator und kultivieren Herzzellen.

Anton wässert Kohl und Miniaturweizen.

Neben diesen Aufgaben müssen sie Rauchmelder austauschen, den Wasserversorgungstank wechseln, einen neuen Tank an der Anschlussstelle 3 installieren, das Badezimmer und die Küche reinigen sowie die ständig kaputte Toilette reparieren.

Gelegentlich müssen zwei Astronaut:innen in klobige Raumanzüge schlüpfen, um im All ein Experiment durchzuführen oder die Aussenseite der Station zu reparieren. Diese Einsätze verstärken das Gefühl von Einsamkeit und machen die Gefahr von Kollisionen mit Weltraumschrott bewusst.

Wachsames Auge über die Welt: Astronauten fotografieren Stürme aus dem All, um Wetter zu beobachten, Klimadaten zu sammeln und Notfalldienste bei Naturkatastrophen zu unterstützen
Bild: NASA

Neue Lebenseinstellungen

Die aussergewöhnliche Lebenssituation verändert ihre Denkweise. Sie hatten hart gekämpft, um Astronaut:in zu werden, viele Opfer gebracht und eine strenge Ausbildung durchlaufen – mit Tests in Wüsten, U-Booten und Höhlen. Nun denken sie darüber nach, wie es möglich ist, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen, in Enge und Fremdbestimmung zu arbeiten und auf vieles zu verzichten: Familie, Sex, Wasser, Bäume, Tiere oder das einfache Vergnügen, zu Fuss zu gehen oder auf dem Boden zu liegen.

Politische Regeln wie die Trennung von russischen und amerikanischen Toiletten ignorieren sie. Hier oben, am letzten Aussenposten der Menschheit, erscheinen solche Vorschriften lächerlich. Die Bodencrews bezeichnen die Astronaut:innen als unberechenbare Katzen, die sich nicht erziehen lassen. Diese wiederum erkennen, dass sie nur Wegbereiter für zukünftige Missionen sind – etwa für Flüge zum Mars – und nie grosse Stars wie die ersten Mondfahrer sein werden.

Wenn sie die Erde betrachten, überkommt sie ein unwiderstehlicher Gedanke: «Man ist versucht, alles, was man zu wissen glaubt, über Bord zu werfen und zu glauben, dass dieser Planet im Zentrum von allem steht. Er wirkt so spektakulär, so ehrwürdig und majestätisch.» Wie kann ein solches Wunder nur ein winziges Kügelchen im unermesslichen Nichts sein? Wahrnehmung und Wissen stehen in starkem Kontrast zueinander.

Die Bodencrews bezeichnen die Astronaut:innen als unberechenbare Katzen, die sich nicht erziehen lassen.

Matthias Zehnder

Die wunderbare Erde

Roman ruft Nell zum Aussichtspunkt. Sie fliegen gerade über die nächtliche Antarktis. «Das Nachthimmelsleuchten ist grünlich-gelb. Darunter, in dem Spalt zwischen Atmosphäre und Erde, liegt ein neonfarbener Flaum, der sich bewegt. Er kräuselt sich, quillt hervor, Rauch ergiesst sich über die Erdoberfläche; das Eis schimmert grün, die Unterseite des Raumschiffs wirft fremdartige Schatten. Dem Licht wachsen Flügel und Glieder. Es entfaltet sich, drückt gegen die Innenseite der Atmosphäre, zuckt, biegt sich und lässt Schwaden aufsteigen. Es fluoresziert, wird immer heller, explodiert schliesslich zu Türmen aus Licht, die sich über dreihundert Kilometer in den Himmel erstrecken. An ihren Spitzen leuchten magentafarbene Schwaden, die die Sterne verdecken. Ein flirrendes Summen aus flackerndem, bebendem Licht überflutet den Erdball und lässt die Tiefe des Alls erahnen.»

Solche Erlebnisse wiegen alle Unannehmlichkeiten auf. Die Leidenschaft, Astronaut:in zu werden, war doch sinnvoll gewesen

Aurora Borealis: Geladene Teilchen des Sonnenwinds treffen auf das Magnetfeld der Erde und erzeugt farbiges licht, durch die kollision mit Gasen in der Atmosphäre
Bild: NASA
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