Getrieben bis zum Absturz?

Getrieben bis zum Absturz?

Leidenschaft inspiriert und treibt uns an – doch wann kippt sie in Obsession? Wenn die Kontrolle schwindet, droht der Absturz. Wie erkennt man die Grenze?

Nicht jede Leidenschaft bedeutet Abhängigkeit. Von Sucht darf erst gesprochen werden, wenn ein Leidensdruck besteht, etwa durch übermässiges Verlangen, Kontrollverlust oder Entzugserscheinungen. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Verhaltenssüchte im Gehirn ähnliche Mechanismen aktivieren wie substanzgebundene Abhängigkeiten. Das Verlangen wird mit der Zeit zwanghafter – Betroffene benötigen immer stärkere Reize, um das gleiche Glücksgefühl zu empfinden.

Nach Aristoteles

Nach Aristoteles (384–322 vor Christus) sind Regungen des Gemüts, begleitet von Lust oder Unlust, weder gut noch schlecht. Die Epikureer und Stoiker (zirca 300 vor Christus) hingegen warnten davor, dass Emotionen eine Quelle der Unruhe seien und von wesentlichen Lebenspflichten ablenken. Der Philosoph René Descartes (1596–1650) sprach sogar von Lebensgeistern, die in das Gehirn eindringen. Während Immanuel Kant (1724–1804) darin eine «Krankheit des Gemüts» sah.

So zeigt sich hier die Ambivalenz: Sie kann sowohl schöpferisch und glücksbringend als auch zerstörerisch und unheilvoll sein – ein Spannungsfeld, das sich bis heute durchzieht.

Und wenn es kippt?

Eine starke Vorliebe, ein tiefes Verlangen oder eine intensive Beschäftigung mit einer bestimmten Aktivität oder einem Objekt – all das beschreibt, was Menschen antreibt. Der Duden definiert es als: «Sich im emotionalen, vom Verstand nur schwer zu steuernden Verhalten äussernder Gemütszustand, aus dem heraus etwas erstrebt, begehrt, ein Ziel verfolgt wird.» Meist wirkt es sich positiv aus – als innerer Antrieb, der uns dazu bringt, Grosses zu erreichen.

Doch wie ein bekanntes Sprichwort sagt: «Die Dosis macht das Gift.» Was passiert, wenn sich diese Hingabe verselbstständigt? Wenn das Streben nach Erfolg, Anerkennung oder Vergnügen das gesamte Leben bestimmt?

Passion oder Obsession? Der Übergang ist manchmal schmaler, als man denkt.
Bild: unsplash

Eine «andere» Sucht

Sucht ist eine Abhängigkeit von Substanzen oder Verhaltensweisen. Sie äussert sich als schwer zu unterdrückendes Verlangen, ein bestimmtes Suchtmittel zu konsumieren oder eine spezifische Tätigkeit auszuüben.

Sucht äussert sich als schwer zu unterdrückendes Verlangen, ein bestimmtes Suchtmittel zu konsumieren oder eine spezifische Tätigkeit auszuüben.

Denken wir an Sucht, kommen uns meist Alkohol-, Tabletten- oder Drogenabhängigkeit in den Sinn. Doch moderne Forschung zeigt, dass auch alltägliche Aktivitäten zur Sucht werden können. Expert:innen sprechen hier von Verhaltenssüchten. Dazu gehören unter anderem Spielsucht, Sportsucht, Kaufsucht, Social-Media-Sucht, Internetsucht und Arbeitssucht. Besonders problematisch: Da diese Formen der Abhängigkeit oft erst spät erkannt werden, ist es schwer, sie zu durchbrechen.

Der schmale Grat

Jede Entwicklung zur Verhaltenssucht ist individuell. Umwelt- und persönliche Faktoren spielen eine zentrale Rolle.

Ein Beispiel: Jemand spielt gerne Online-Games – ein harmloses Hobby, das sogar entspannen und Spass machen kann. Doch was passiert, wenn das Spiel zur Hauptbeschäftigung wird? Wenn man ohne das Spiel nicht mehr auskommt, den Alltag vernachlässigt und soziale Kontakte verliert? Dann wird aus Begeisterung ein Zwang.

Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass das Gehirn auf Verhaltenssüchte ähnlich reagiert wie auf Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Das Belohnungssystem schüttet bei jeder gespielten Runde Dopamin aus – ein kurzer Kick, der zum Wiederholen verleitet. Mit der Zeit braucht es immer mehr davon, um das gleiche Hochgefühl zu erleben. Die Kontrolle schwindet. Schliesslich wird das Verhalten so bestimmend, dass es den Alltag dominiert.

Dies betrifft nicht nur digitale Süchte. Auch Arbeit oder Sport können zur Sucht werden – oft lange unbemerkt, weil sie gesellschaftlich positiv bewertet werden. Doch irgendwann kippt das Gleichgewicht. Die Betroffenen merken es meist zu spät.

Vom Eifer in den Burnout

Hochengagierte Arbeitnehmer:innen werden oft bewundert: immer erreichbar, immer produktiv, immer mit vollem Einsatz. Doch genau hier liegt die Gefahr. Was als Passion beginnt, kann in eine Art Arbeitssucht münden. Wissenschaftliche Studien, wie zum Beispiel eine der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2021, zeigen, dass exzessives Arbeiten ähnliche Auswirkungen auf das Gehirn haben kann wie andere Verhaltenssüchte. Die dauerhafte Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin führt zu einem Zustand chronischer Anspannung, der langfristig zu Erschöpfung, Schlafstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen kann. Ähnliche Untersuchungen belegen, dass Menschen, die regelmässig über 55 Stunden pro Woche arbeiten, ein signifikant erhöhtes Risiko für Schlaganfälle und Herzerkrankungen haben.

Phase 1: Der Einsatz wächst. Man wird für seine Hingabe gelobt und fühlt sich bestätigt.
Phase 2: Arbeitszeiten verschwimmen, Pausen werden zur Seltenheit. Selbst Freizeit ist von Gedanken an die Arbeit geprägt. Die Abhängigkeit verstärkt sich.
Phase 3: Schliesslich bricht das System zusammen: Burnout. Statt Begeisterung dominieren Erschöpfung, Antriebslosigkeit und innere Leere.

Psycholog:innen warnen, dass Arbeitssucht besonders tückisch ist, da sie lange gesellschaftlich akzeptiert – gar bewundert – wird. Doch Burnout ist nicht nur Müdigkeit – es ist ein ernstzunehmender psychischer Zustand. Therapien setzen hier an, um die Balance zwischen Arbeit und Erholung wiederherzustellen.

Zwischen Hingabe und Abgrund: Wer die Balance verliert, riskiert den Fall.
Bild: unsplash

Balanceakt

Innere Antriebe sind eine wertvolle Triebkraft. Sie motivieren uns, Herausforderungen anzunehmen und Ziele zu erreichen. Doch sobald sie das Leben bestimmen und Kontrolle verloren geht, werden sie zur Gefahr.

Doch sobald sie das Leben bestimmen und Kontrolle verloren geht, werden sie zur Gefahr.

Wenn das eigene Wohlbefinden leidet, das soziale Umfeld vernachlässigt wird oder die Gedanken nur noch um eine einzige Sache kreisen, sollte man innehalten und sich fragen: Ist das noch Hingabe oder schon Sucht? Auch Freunde und Familie können aufmerksam sein und Unterstützung anbieten, wenn jemand droht, sich in einem Hobby zu verlieren.

Der Weg aus der Abhängigkeit ist schwer, aber möglich. Erste Schritte sind Selbsterkenntnis, professionelle Hilfe und bewusste Veränderung des Verhaltens. Therapieangebote und Selbsthilfegruppen bieten Unterstützung.

Der Schlüssel liegt darin, seine Leidenschaft bewusst und einem gesunden Mass zu leben – als Quelle der Freude, nicht als Ursache des Leids. Denn wahre Erfüllung sollte unser Leben bereichern, nicht kontrollieren.

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