Generationentalk: True Crime: Warum uns Verbrechen faszinieren
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Spätabends, das Licht gedimmt, eine Stimme im Kopfhörer erzählt von einem Mord. Ein Dorf im Schockzustand, die Polizei im Dunkeln – bis ein unscheinbares Detail alles verändert. Was wie ein Thriller tönt, basiert auf wahren Ereignissen. True Crime ist längst kein Nischengenre mehr, sondern ein kulturelles Phänomen. Millionen Menschen konsumieren reale Verbrechen als Podcast, Serie oder auf den sozialen Medien. Doch warum eigentlich? Und was macht das mit uns?

Diesen Fragen widmete sich der Generationentalk «True Crime: Warum uns Verbrechen faszinieren» von UND Generationentandem am 27. Mai 2025 im Offenen Höchhus. Auf dem Podium: zwei Perspektiven, zwei Generationen – aber ein gemeinsames Interesse. Die 21-jährige Podcasterin Sheryn Locher und der 80-jährige ehemalige Polizeisprecher und heutige Krimiautor Jürg Mosimann.
Der Reiz des Grauens – und die Verantwortung dahinter
Sheryn Locher spricht in ihrem Podcast «Lebenslänglich» über reale Kriminalfälle aus der Schweiz. Das Publikum liebt nicht nur die Spannung, sondern auch die Möglichkeit, selbst mitzudenken. «Menschen wollen begreifen, was andere zu so etwas treibt», sagt Sheryn Locher. Bei Live-Shows dürfen sie miträtseln, Hypothesen aufstellen, Ermittlungsdetails bewerten. Es ist ein Spiel mit dem Unfassbaren – aber kein Spiel ohne Konsequenzen.

Denn es sind echte Geschichten, echte Opfer, echte Familien. Und genau darin liegt die Verantwortung. Jürg Mosimann, der während seiner Karriere als Polizeisprecher oft mit Angehörigen konfrontiert war, erinnert sich an den Fall eines verschwundenen Mädchens. Statt distanziert zu bleiben, suchte er das persönliche Gespräch mit dem Vater – und legte damit den Grundstein für eine Beziehung auf Augenhöhe. «Solche Begegnungen prägen. Und sie verpflichten.»
Auch Sheryn Locher weiss um die feinen Grenzen. Beim Fall Rupperswil – einem der erschütterndsten Mehrfachmorde der Schweiz – lehnte der überlebende Vater eine Stellungnahme ab. Dennoch erlaubte er, dass der Fall thematisiert wird. Für Sheryn Locher ein stiller Vertrauensbeweis. «Man muss spüren, wann Schweigen respektiert werden will.»
Zwischen Kontrolle, Angst und verzerrter Wahrnehmung
True Crime gibt das Gefühl von Kontrolle: Wer die Mechanismen eines Verbrechens versteht, fühlt sich besser gewappnet. Doch diese vermeintliche Klarheit kann trügen. Während Statistiken zeigen, dass schwere Gewalttaten selten sind, dominieren sie die Medien – und mit ihnen unser Sicherheitsgefühl.
«Die Angst war real – obwohl die Bedrohung es statistisch nicht war.»
Jürg Mosimann
Jürg Mosimann erinnert sich an einen Fall aus dem Jahr 2002, bei dem ein Serientäter in Bern Panik auslöste. Öffentliche Verkehrsmittel wurden gemieden, Frauen fühlten sich nachts nicht mehr sicher. «Die Angst war real – obwohl die Bedrohung es statistisch nicht war.»

Sheryn Locher beobachtet ähnliche Effekte bei ihren Hörer:innen. Vor allem junge Frauen entwickeln Schutzroutinen: Standort teilen, kurze Nachrichten wie «bin gut angekommen». Kein Ausdruck von Paranoia – sondern von gesundem Misstrauen. Sheryn Locher sagt: «Wenn meine Arbeit dazu beiträgt, dass jemand achtsamer wird oder Hilfe holt, ist das mehr als Unterhaltung.»
«Wenn meine Arbeit dazu beiträgt, dass jemand achtsamer wird oder Hilfe holt, ist das mehr als Unterhaltung.»
Sheryn Locher
Doch die mediale Inszenierung bringt auch Risiken. Täter werden mitunter zu charismatischen Figuren stilisiert – wie Ted Bundy, gespielt von Zac Efron. Sheryn Locher gibt zu, dass selbst sie manchmal mit Sympathie auf ehemalige Täter blicke – etwa wenn sie sich glaubhaft verändert haben. «Wichtig ist, sich dieser Mechanismen bewusst zu sein. Es darf nie nur um die Person gehen, sondern um das, was sie getan hat.»
Gerechtigkeit, Medienmacht – und die Verbindung der Generationen
Die Frage nach Gerechtigkeit zieht sich durch viele True-Crime-Erzählungen. Wird der Täter gefasst? Wird er verurteilt? Für das Publikum ist das Ende oft entscheidend. Doch in der Realität bleiben Fälle ungelöst, Prozesse dauern Jahre, Strafen erscheinen milde. Die Schweiz kennt keine mehrfach lebenslangen Haftstrafen wie die USA – und genau das führt bei vielen zu Unverständnis. Jürg Mosimann warnt vor simplen Antworten: «Justiz ist nicht Rache. Und nicht jede Schuld kann in Strafe gemessen werden.»

Sheryn Locher verweist auf den Einfluss sozialer Medien: Dort werden nicht selten extreme Forderungen laut – nach lebenslanger Haft, öffentlicher Blossstellung, Vergeltung. Doch sie sieht in der Schweizer Rechtsordnung auch Chancen: Raum für Entwicklung, für Gutachten, für ein zweites Leben. «Das ist nicht naiv – das ist differenziert.»
«Justiz ist nicht Rache. Und nicht jede Schuld kann in Strafe gemessen werden.»
Jürg Mosimann
Am Ende steht die Frage: Kann True Crime auch verbinden – statt nur zu schockieren? Der Generationentalk gab darauf eine leise, aber klare Antwort. Sheryn Locher und Jürg Mosimann trennt fast ein Menschenleben – doch ihre Neugier auf das, was hinter dem Bösen steckt, eint sie. Auch das Publikum war bunt gemischt: von Jugendlichen bis zu Rentner:innen – alle fasziniert, nachdenklich, aufgewühlt.
«Begegnet allen mit Respekt – Täter:innen, Opfer, Angehörige.»
Sheryn Locher
Zum Schluss wurde beiden dieselbe Frage gestellt: Was wünschen sie sich im Umgang mit True Crime? Sheryn Locher antwortete: «Konsumiert, so viel ihr wollt – aber so, dass es euch gut geht. Und begegnet allen mit Respekt – Täter:innen, Opfer, Angehörige.» Jürg Mosimann lächelt und sagt nur ein Wort: «Vernünftig.»

Denn True Crime ist kein Spiel. Es ist eine Erzählung über die dunkelsten Seiten des Menschlichen – und über unser Bedürfnis, darin Sinn zu finden. Vielleicht liegt darin seine eigentliche Kraft: nicht in der Gänsehaut, sondern in der Möglichkeit, Gespräche zu eröffnen. Über Gerechtigkeit, Moral – und über das, was uns alle verbindet.