Generationenforum: Neue (Gem)einsamkeit?
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Einsamkeit betrifft nicht nur Einzelne – sondern die ganze Gesellschaft. Sie ist leise, oft unsichtbar – und doch allgegenwärtig. Das Generationenforum «Neue (Gem)einsamkeit?» am 8. Mai 2025 im Quartierzentrum Lerchenfeld in Thun hat das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: wissenschaftlich, alltagsnah, politisch – und zutiefst menschlich.

Mit dabei waren Milena Imwinkelried (29), Doktorandin am Institut für Psychologie der Universität Bern, die zur Einsamkeit im reconnected-Projekt forscht; Eve Bino, Co-Geschäftsleiterin des Telefonangebots malreden; Alina Gerber (35), Fachperson für Soziale Arbeit und Vorstandsmitglied bei UND Generationentandem; und Elisabeth Krayenbühl, die das Quartierzentrum Lerchenfeld mit aufgebaut hat und dort im Vorstand wirkt. Moderiert wurde das Gespräch von Elias Rüegsegger (30) und Fritz Zurflüh (71).
Wenn Nähe fehlt: Einsamkeit tut weh
Einsamkeit ist kein neues Phänomen – aber eines, das heute präsenter denn je erscheint. Und eines, das oft falsch verstanden wird. Milena Imwinkelried bringt es auf den Punkt: «Einsamkeit ist kein Krankheitsbild. Aber ein Gefühl, das krank machen kann.» Und weiter: «Nicht zugehörig zu sein, kann auf Dauer so wehtun wie körperlicher Schmerz.»

Im Rahmen des europäischen reconnected-Projekts forscht Milena Imwinkelried (29) zur Frage, wie ältere Menschen ab 55 besser mit Einsamkeit umgehen können. Gemeinsam mit ihrem Team entwickelt sie eine digitale Plattform, die Nutzer:innen mit niedrigschwelligen Übungen und Informationen unterstützt. Ziel sei es, so sagt sie, «nicht erst dann zu helfen, wenn es weh tut – sondern früher».
«Nicht zugehörig zu sein, kann auf Dauer so wehtun wie körperlicher Schmerz.»
Milena Imwinkelried
Der Begriff, den sie dafür nutzt, ist einleuchtend: «Einsamkeit ist sozialer Durst. So wie wir trinken müssen, brauchen wir Verbindung.»
Zuhören, wenn sonst niemand da ist
Parallel zur Forschung geschieht etwas sehr Konkretes – am Telefon. Das Projekt malreden, mitinitiiert und mitgeleitet von Eve Bino, ist ein Gesprächsangebot für Menschen, die niemanden zum Reden haben. Und das im wörtlichen Sinn. «Viele sagen gar nicht: Ich bin einsam», sagt Eve Bino. «Sie sagen: Ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann.»
«Manche jammern, sind wütend, fühlen sich im Leben übergangen.»
Eve Bino

malreden bietet zwei Formate: spontane Alltagstelefonate und feste Gesprächstandems. Zwischen 650 und 700 Gespräche zählt das Team monatlich. Was sich am Hörer zeigt, ist oft nicht nur Stille – sondern Frust. «Manche jammern, sind wütend, fühlen sich im Leben übergangen», erzählt Eve Bino weiter. «Und sie haben oft erlebt, dass niemand das hören will.»
Für sie ist Zuhören deshalb keine Dienstleistung, sondern Haltung: urteilsfrei, empathisch, ausdauernd. «Wir lassen das stehen. Und genau das verändert etwas.» Was einfach klingt, hat oft tiefgreifende Wirkung. «Manchmal ist das erste ‹Danke› am Ende eines Gesprächs ein kleiner Meilenstein», sagt Eve Bino. «Weil es zeigt: Da ist wieder jemand, der gesehen wird.»
Räume für Begegnung statt nur für Funktion
Doch nicht alle Wege aus der Einsamkeit verlaufen digital oder übers Telefon. Im Offenen Höchhus ist Steffisburg etwa entsteht Begegnung ganz analog: im Sprachcafé, beim gemeinsamen Lesen oder einfach auf dem Sofa. «Ich nehme oft meine Kinder mit», erzählt Alina Gerber. «Weil echte Begegnung Generationen braucht.»

Für sie ist klar: In einer Welt, in der Effizienz, Arbeit und Selbstoptimierung dominieren, braucht es Orte ohne Zweck. «Wir brauchen mehr Zwischenräume», sagt sie. «Sonst geht uns das Dazwischen verloren.»
«Sonst geht uns das Dazwischen verloren.»
Alina Gerber
Auch Elisabeth Krayenbühl vom Quartierzentrum Lerchenfeld in Thun spricht lieber von offenen Türen als von Programmen. «Ich mag es, wenn Leute einfach mal reinschauen.» Das Quartierzentrum – das einzige Quartierzentrum in Thun – versteht sich als Treffpunkt mit niedrigster Schwelle – und hohem Wert.
Wo aus Nachbarschaft Gemeinschaft wird
Einfach reinkommen, bleiben, mitmachen: Das Quartierzentrum Lerchenfeld ist Treffpunkt, Veranstaltungsort und Wohnzimmer des gleichnamigen Thuner Stadtteils. Hier wird gemeinsam gekocht, diskutiert, getanzt oder einfach nur Kaffee getrunken. Untergebracht im ehemaligen Feuerwehrmagazin, wurde es 2022 von der Stadt Thun umgebaut – als erstes und bisher einziges städtisches Quartierzentrum überhaupt.
Was als Antwort auf das wachsende Bedürfnis nach Begegnung begann, lebt heute vom Engagement der Menschen vor Ort. Wer eine Idee hat, bringt sie ein. Wer einen Raum braucht, findet ihn hier. Offen, generationenübergreifend und ohne grosse Hürden – ein Ort, der zeigt, wie Gemeinschaft entstehen kann.
Gesellschaftliche Verantwortung – oder einfach Pech?
Ist Einsamkeit ein individuelles Problem – oder ein systemisches? Eine Besucherin brachte es in der ersten Diskussionsrunde am Ende des Abends auf den Punkt: «Ich kann mich auch mitten in einer Gruppe einsam fühlen – wenn niemand merkt, dass ich da bin.»

Der sogenannte Teufelskreis der Einsamkeit ist in der Psychologie gut beschrieben: Wer sich über längere Zeit nicht zugehörig fühlt, nimmt auch neutrale soziale Situationen als Ablehnung wahr. Man zieht sich zurück, fühlt sich «komisch» – und wird entsprechend behandelt. Ein Selbstläufer, der schwer zu stoppen ist. «Aber», sagt Milena Imwinkelried, «er lässt sich unterbrechen. Durch neue Erfahrungen, durch Wertschätzung. Durch Menschen, die anders reagieren als erwartet.»
Alleinerziehend – und oft allein
Im Gespräch mit Fritz Zurflüh erzählt Hermine Gasser von ihrem Leben als alleinerziehende Mutter. Als ihr Sohn geboren wurde, war sie 33, der Vater hatte sich längst abgemeldet. Sie arbeitete Teilzeit in einem Spital in Bern, kämpfte um einen Krippenplatz, organisierte alles allein. Die Familie im Emmental hatte wenig Verständnis: «Ich war die Einzige, die nicht geheiratet hat. Ich passte nicht ins Bild.»
Einsamkeit war für sie nicht nur ein Gefühl, sondern ein Alltag: Weihnachten allein. Ostern allein. Und doch beschreibt sie sich selbst als «Stehaufmännchen». Ihre Kraft fand sie im Tanzen, in langen Spaziergängen – und in einem Netzwerk alleinerziehender Frauen, das sie mitaufbaute. Zehn Jahre lang feierten sie gemeinsam, machten Ausflüge, hielten sich über Wasser.
Heute ist ihr Sohn erwachsen, die Beziehung zu ihm eng. «Ich weiss nicht, ob ich kräftig bin», sagt Hermine Gasser leise. «Aber ich habe immer etwas gefunden, das mir geholfen hat.» Ihre Geschichte zeigt: Einsamkeit ist nicht immer laut. Aber manchmal braucht es nur einen Menschen, der zuhört – und sie wird hörbar.

Alleinsein darf auch schön sein
Ein besonders schöner Moment des Abends war diese Frage an die vier Podiumsteilnehmer:innen: «Wann wart ihr zuletzt allein – und es war richtig schön?» Die Antworten reichten vom Spazieren im Regen über das Lesen bis zum bewussten Nichtstun. Sie zeigten, dass Alleinsein nicht mit Einsamkeit verwechselt werden darf. Es kann wohltuend, selbst gewählt und heilsam sein – wenn es nicht mit einem Gefühl von Leere, sondern mit innerer Verbundenheit einhergeht.
Kleine Gesten, grosse Wirkung
In einer zweiten Diskussionsrunde am Ende des Abends diskutierten die Besucher:innen, was jede:r gegen Einsamkeit tun kann – und was politisch nötig wäre. Die Antworten waren konkret: Ein Lächeln im Bus. Eine Einladung, auch wenn schon zwei Mal abgesagt wurde. Ein Gespräch, das nicht sofort eine Lösung braucht.
Und: Es braucht Orte, an denen man einfach auftauchen kann. Ohne etwas zu müssen.

Einsamkeit ist menschlich – aber sie muss nicht bleiben
Einsamkeit ist ein Gefühl – kein Makel. Sie kann uns treffen, in jeder Lebensphase. Aber sie lässt sich verändern. Durch Forschung. Durch Projekte. Durch Menschen, die zuhören, Räume öffnen, Beziehungen ermöglichen.
Vielleicht ist genau das die wichtigste Erkenntnis dieses Generationenforums: Wir können einander nicht retten. Aber wir können da sein. Und das reicht manchmal schon.