

Lina: Im Internet habe ich einige Definitionen zu den beiden Begriffen Hoch- und TiefstaplerIn gelesen. Auf den ersten Blick sind beide Typen grundverschieden. HochstaplerInnen versuchen bewusst so zu tun, als wären sie wichtiger oder besser, als sie tatsächlich sind. TiefstaplerInnen hingegen stellen sich kaum in den Mittelpunkt und reden ihre eigenen Fähigkeiten klein – was auch mit einem schlechten Selbstbewusstsein zusammenhängen könnte -, um niemanden zu enttäuschen oder sympathischer zu wirken.
Ich habe mich gefragt, ob sich zwischen den beiden Typen auch eine Gemeinsamkeit findet. Schliesslich verhalten sich beide so, um daraus einen Vorteil zu ziehen, für ein höheres Ansehen oder mehr Sympathie.
Lina: Wo siehst du Gemeinsamkeiten?
Anita: Beide sind nicht immer ehrlich. Sie täuschen mit ihren Aussagen das Gegenüber, wenn auch nicht immer bewusst.
Machen TiefstaplerInnen Äusserungen aus mangelndem Selbstbewusstsein, so steckt da wohl keine Absicht dahinter. Wollen sie hingegen Sympathie gewinnen, unterstelle ich ihnen eine bewusste Aussage. Behauptet eine Person etwa, nicht gut dekorieren zu können, obwohl sie grosses Talent dafür hat, will sie Komplimente erheischen.
Ein Mensch mit einem hohen, ja übersteigerten, Selbstbewusstsein übertreibt vielleicht nicht immer bewusst, wenn er sich zum Beispiel für einen höheren Posten geeignet hält. Er glaubt tatsächlich daran, dass er alle Voraussetzungen dafür mitbringt, auch wenn es nicht stimmt. Behauptet er hingegen, dass er den Segelschein besitzt, obwohl es nicht stimmt, ist das gelogen.

Lina: Ich finde auch, dass man zwischen bewusstem und unbewusstem Hoch-/Tiefstapeln unterscheiden kann. Wenn es unbewusst passiert, finde ich es nicht unbedingt verwerflich. Wird es aber bewusst angewendet, so erscheint mir das moralisch nicht korrekt. Von aussen ist leider oft schwer festzustellen, ob es jemand bewusst tut oder nicht. Deshalb reagieren Mitmenschen wahrscheinlich meist eher negativ darauf.
Ich denke, ich selbst neige eher zum Tiefstapeln. Ich kann mich gut erinnern, dass ich, gerade anfangs Pubertät, manchmal meine Fähigkeiten heruntergespielt habe, in der Hoffnung auf Komplimente. Vielleicht lag es auch daran, dass ich nach Bestätigung gesucht habe, weil ich in meiner eigenen Person nicht sicher war.
«Es ist normal, dass man die eigenen Fähigkeiten als junger Mensch weniger genau einschätzen kann und dies erst durch Lebenserfahrung einfacher wird.»
Lina Weber
Anita: Ich kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, jemals mit Absicht tiefgestapelt zu haben. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich Jahre – nein sogar jahrzehntelang – tiefgestapelt habe. Mit Komplimenten konnte ich als junger Mensch nicht gut umgehen, ich reagierte oft peinlich berührt. Heute bemühe ich mich, mein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Über Komplimente freue ich mich und zeige das auch. Hochstapeln lag und liegt mir auch heute noch fern. Deshalb verstehe ich Menschen, die ihre Fähigkeiten herabmindern, besser, weil sie mir emotional näher sind. Am liebsten wäre ich immer ehrlich bei Aussagen über mich und will mich richtig einschätzen, aber das ist nicht so einfach. Notorischen HochstaplerInnen gehe ich aus dem Weg, hingegen gelegentliches Angeben stört mich nicht.

Anita: Wie weit bist du als junge Frau darin, deine Fähigkeiten wahrheitsgetreu einzuschätzen und auch zu kommunizieren?
Lina: Ich glaube, mir geht es beim Einschätzen meiner Fähigkeiten oft ähnlich wie dir früher. Hinzu kommt, dass ich leidenschaftliche Pessimistin bin. Deshalb neige ich dazu, vom Negativen auszugehen, und damit geht oft einher, dass ich meine eigenen Fähigkeiten herabsetze und mir denke: «Das chani sowieso nid.» Ich weiss aber nicht, ob das tatsächlich als Tiefstapelei bezeichnet werden kann, weil das ja nur mich betrifft und nicht meine Mitmenschen. Ich bin aber der Meinung, dass es normal ist, dass man die eigenen Fähigkeiten als junger Mensch weniger genau einschätzen kann und dies erst durch Lebenserfahrung einfacher wird. Vielleicht hängt dies auch mit den Erfahrungen zusammen, die man in seinem Leben macht. Zum Beispiel wie das Umfeld auf die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten reagiert oder wie einem beigebracht wurde, die eigenen Fähigkeiten zu kommunizieren.

Lina: Glaubst du, dass dein Umfeld und deine Erfahrungen bei dir zum Tiefstapeln beigetragen haben?
Anita: Wenn du dir einredest, dass du das nicht kannst, würde ich das als «Heruntermachen deiner selbst» bezeichnen und nicht als Tiefstapeln. Du beeinflusst dich so negativ und die Chance, dass dein Vorhaben gelingt, wird dadurch kleiner. Ja, wahrscheinlich machst du gar keinen Versuch, es zu erreichen. Wenn du dir hingegen sagst: «Das schaffe ich» und auch daran glaubst, glückt es dir eventuell eher, weil du positiv daran herangehst.
«TiefstaplerInnen gewichten ihre Niederlage höher als ihre Gewinne.»
Anita Bucher
Ich glaube nicht, dass mein Umfeld mich zum Tiefstapeln anregte. Hingegen meine Lebenserfahrungen haben dazu beigetragen, dass ich mich nicht so rühmen mag. Ich bin schon manchmal gescheitert und musste mich neu orientieren. Meine Erfahrung ist, dass TiefstaplerInnen ihre Niederlagen höher gewichten als ihre Gewinne. Ich habe in meinen fast sechzig Jahren auch einiges erreicht, was ich aber oft vergesse. Während meine Erfolge länger zurückliegen, haben sich etliche Misserfolge vorwiegend aus gesundheitlichen Gründen erst in den letzten Jahren ereignet. Deshalb vielleicht auch die unterschiedliche Gewichtung. Mit zunehmendem Zeitabstand wird die Abwägung da wieder ausgeglichener, daran arbeite ich.


HochstaplerInnen haben es leichter im Leben, finde ich. Sie glauben an sich, fallen auch auf die Nase, vergessen dies aber bald wieder und gehen mit hohem Selbstvertrauen weiter, da sie vor allem ihre positiven Seiten sehen.
«Ich glaube, TiefstaplerInnen werden öfter positiv überrascht und HochstaplerInnen erleben häufiger Enttäuschungen und Rückschläge.»
Lina Weber
Lina: Ich denke schon, dass HochstaplerInnen oft weiterkommen als TiefstaplerInnen. Schon allein deshalb, weil sie sich mehr zutrauen und so auch mehr ausprobieren. Ich glaube aber, dass TiefstaplerInnen öfter positiv überrascht werden und HochstaplerInnen häufig Enttäuschungen und Rückschläge erleben. Sie scheinen sich aber davon nicht wirklich beirren zu lassen.

Vielleicht ist Hoch-/Tiefstapeln einfach eine Typ-Frage und hat nichts mit dem Umfeld oder den eigenen Erfahrungen zu tun. Aber ich denke schon, dass man im Verlauf des eigenen Lebens immer mehr lernt, wer man ist und welche Fähigkeiten man tatsächlich beherrscht. Es scheint so, dass man selten mehr davon profitiert, hoch-/tiefzustapeln, als davon, einfach klar seine eigenen Fähigkeiten zu kommunizieren.