
Ich besuchte zu jener glücklichen Zeit die Töchter-Handelsschule, in der wir jungen Frauen nach der Diplomierung sofort eine Stelle fanden, das heisst gefragt waren «wie frische Brötchen»! In der heutigen Fachsprache heisst das, dass es auch für die Dümmsten unter uns kein Problem war Arbeit zu finden.
Nach der damals üblichen Zeit als «au pair» in England und einer schlecht bezahlten Anfänger-Stelle in Lausanne dachte ich, dass ich nun gerüstet sei für eine anständige Direktions-Sekretärinnen-Stelle. Ein paar Wochen Aushilfe im Büro meines Vaters überzeugten mich für immer und ewig, dass diese Zusammenarbeit nie gut gehen würde, und ich bewarb mich beim Schweizerischen Filminstitut in Bern, einem kleineren Film-Verleih für Schulen und Private an der Erlachstrasse. Mir gefiel die Idee, beim «Film» zu arbeiten, das Bürozimmer mit Blick auf den Garten, und mir gefiel auch der Chef, für den ich arbeiten würde. Eine Bekannte hatte mir zugeflüstert, dass Herr Dubied nur bestes Neuenburger Französisch spreche und sehr charmant sei – besonders zu jungen Mädchen. Ohne Hemmungen und voller Selbstvertrauen stellte ich mich zuversichtlich vor und schilderte alle meine Markt-Werte. Herr Dubied kam ausser Atem ins Büro gestürmt, wo ich schon ein Weilchen gewartet hatte: «Le train – quel desastre…» Ich lächelte und er entspannte sich. In dem Moment realisierte ich, dass es nicht nur «le train» gewesen sein musste. Er war wahrscheinlich einfach zu spät aufgestanden und hatte sein Hemd falsch zugeknöpft, so dass der linke Teil des Kragens – und keine Krawatte … Halt, nimm dich zusammen – er hatte gerade etwas gefragt! Eifrig versuchte ich, mich auf das zu konzentrieren, wofür ich hergekommen war. So löste ich meine Augen vom schiefen Kragen und sagte eifrig «oui, oui Monsieur» – und meine Hand fuhr unwillkürlich an meinen Hals um zu prüfen, ob bei m i r alles in Ordnung sei. Monsieur Dubied öffnete sofort das Fenster, weil er annehmen musste, mir falle das Atmen schwer. Ich errötete heftig und sagte: «Merci, Monsieur!» – und stellte fest – jetzt wo er stand, dass auch der Reisverschluss an seiner Hose bloss halb hochgezogen war. Nein, natürlich sah man nichts. Ich hätte sonst den Raum fluchtartig verlassen, denn ich hatte keinen Bruder zuhause. Monsieur setzte sich wieder. Konzentrieren! Ich wollte die Stelle unbedingt!
Während ich mit halbem Ohr hörte, wie er sich nach meinen Sprachkenntnissen erkundigte, schweifte der andere Teil meines Bewusstseins an seinen Frühstückstisch. Müesli, das muss er gegessen haben – mit Weinbeeren, denn ein Teil dieser Beere klebte noch zwischen den beiden oberen Schaufelzähnen. Unwillkürlich saugte ich an meinen Zähnen – es tönte wie ein Kuss-Geräusch. Er brachte mir sofort ein Glas Wasser. Immerhin hatte er mein Sauggeräusch sofort imitiert und die Beere war verschwunden!
Ich kann mich nicht mehr klar erinnern, wie ich durch dieses Interview kam – mit Erröten, an den Hals greifen, Sauggeräuschen… Doch Herr Dubied war reizend! Er sagte freundlich, es sei normal, beim ersten Treffen mit ihm ein wenig nervös zu sein und stellte mich ein: «Weg wie ein frisches Brötchen!» Ich hätte mich auf dem Heimweg trotzdem umbringen können, so schämte ich mich.
Warum auch lassen wir uns von Unachtsamkeiten der andern so irritieren, ja faszinieren? Sei es ein fehlender Knopf, ein Loch am Ärmel, eine Lippenstift-Spur an den Zähnen? Es sind doch alles so unwichtige Kleinigkeiten! Zurück zu Herrn Dubied: Am Abend entdeckte ich die Fallmasche an meinem rechten Strumpf! Und man hatte mir doch gesagt, Herr Dubied blicke den jungen Mädchen immer zuerst auf die Beine…!