Eva Mey ist Soziologin und Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration und Integrationspolitik sowie soziale Ungleichheit und Armut. Sie leitet und führt verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Auftrag von Bund, Kantonen, Gemeinden oder NGO durch. Zuletzt hat sie untersucht, welche Hindernisse für Armutsbetroffene bestehen, um Zugang zu Bildung zu erhalten.
Eva Mey, das Thema Armut ist in der Schweiz immer noch ein Tabuthema. Weshalb gibt es diese grosse Stigmatisierung?
Unsere neoliberale Doktrin ist ein entscheidender Grund dafür. In unserer Gesellschaft und durch alle Bevölkerungsschichten hindurch ist die Einstellung stark verankert, dass man für seine Situation selbst schuld und verantwortlich ist. Dies fällt mir auch im Gespräch mit Armutsbetroffenen selbst auf. Viele haben diese Sichtweise stark internalisiert, obschon eindeutig strukturelle Gründe sie in die Armut getrieben haben. Gleichzeitig wird über das Vermögen, das oft nicht selbst erarbeitet, sondern vererbt wurde, kaum gesprochen. Die Vermögensverteilung liegt in der Schweiz völlig im Dunkeln. Dabei hängen viele prekarisierte Lebenswelten auch damit zusammen, dass die Betroffenen kein Vermögen haben, auf welches sie zurückgreifen können. Während über die Lohngleichheit derzeit stark debattiert wird, sind die Vermögensverhältnisse in der öffentlichen Diskussion noch immer ein «heisses Eisen». In der Schweiz sind wir bezüglich Einkommensunterschieden im internationalen Vergleich im Mittelfeld, bei der Vermögensungleichheit hingegen schneiden wir sehr schlecht ab.
Immer wieder hört man die Aussage, dass wir in der reichen Schweiz eine relative Armut haben. Was entgegen sie dazu? Welche Personengruppen sind besonders von prekären Lebensverhältnissen betroffen?
In der Schweiz ist man schneller an der Armutsgrenze, weil es mehr braucht, um an der Gesellschaft teilhaben zu können. Aber es ist mittlerweile nicht mehr nur ein relationales Problem im Vergleich zum Durchschnitt, sondern es gibt auch absolut gesehen komplett entwürdigte Lebenssituationen. Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und die Partizipation an unserer Gesellschaft ist in der reichen Schweiz nicht für alle erfüllt.
Es gibt einerseits bestimmte soziodemographische Profile, welche überproportional von Armut betroffen sind. Darunter fallen Frauen, ältere Personen, Menschen mit einem geringen Bildungsniveau und Menschen mit Migrationshintergrund, von denen sich viele als Working-Poor durchschlagen müssen. Auf der anderen Seite entsteht Armut oft bei Übergängen in neue Lebensabschnitte – zum Beispiel in die Elternschaft, in die Berufswelt, ins Alter oder auch nach einer Scheidung. Das sind sehr heikle Phasen, in denen die bisherige Form der Existenzsicherung nicht mehr greift oder ausreicht.
«Es gibt auch absolut gesehen komplett entwürdigte Lebenssituationen. Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und die Partizipation an unserer Gesellschaft ist in der reichen Schweiz nicht für alle erfüllt.»
Eva Mey
Zwei Gruppen, die Sie erwähnt haben, möchte ich herausgreifen: Senior*innen und Menschen mit Migrationshintergrund. Gemäss Altersmonitoring von 2022 gelten 14 Prozent der Senior*innen als arm.2, 3 Was sind die Gründe dafür?
Die Gründe sind sehr komplex. Auch hier kommt die Vermögensungleichheit zum Tragen. Oftmals ist es ein strukturelles Problem, dass Menschen in Folge tiefer Löhne und prekärer Anstellungen keine Vorsorge aufbauen konnten. Davon sind beispielsweise auch Personen betroffen, welche im digitalen Wandel nicht mehr Anschluss gefunden haben oder sich nur noch mit prekären Jobs durchschlagen konnten. Und ganz grundsätzlich als Problematik zu nennen sind die vielen flexibilisierten, prekären Arbeitsverhältnisse – also Kleinstpensen, Arbeit auf Abruf, Schein-Selbständigkeit und andere, die keine genügende Absicherung fürs Alter zulassen.
Dabei liegen die Probleme auch in unserem System der Altersvorsorge. Dies gilt speziell für die zweite Säule, die einkommensabhängig ist. Damit setzen sich die Ungleichheiten während der Erwerbstätigkeit im Alter fort: Personen, die weniger Einkommen generieren konnten, wie Frauen bzw. Mütter, Migrant*innen oder generell einkommensschwache Gruppen, sind durch dieses System auch im Alter benachteiligt. Ein weiterer Grund für Altersarmut ist der Nichtbezug von Ergänzungsleistungen im Alter. Aus kantonalen Studien gibt es Hinweise darauf, dass die Nichtbezugsquote bei einem knappen Drittel liegt. Gründe dafür, dass alte Menschen keine Ergänzungsleistungen beziehen, obwohl sie das Recht darauf hätten, sind vor allem Scham oder fehlendes Wissen.
Viele Menschen mit Migrationshintergrund nehmen ihr Recht auf Sozialhilfe nicht mehr wahr, weil ihre Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen gross ist. Aus fachlicher Sicht müssten der Sozialhilfebezug und die Aufenthaltssicherheit wieder entkoppelt werden.4 Wo stehen wir bezüglich dieser Forderung?
Diese ausländerrechtliche Regelung ist noch immer eine grosse Hürde und hat ein grosses Misstrauen bei Migrant*innen ausgelöst. Der Vertrauensverlust in die staatlichen Institutionen zeigt sich nicht nur im Nichtbezug von Sozialhilfe, sondern auch darin, dass niederschwellige Sozialarbeit weniger genutzt wird, weil diese Personen möglichst keinen Kontakt zum Staat möchten. Dies betrifft viele Beratungsangebote und selbst solche im gesundheitlichen Bereich, wie beispielsweise die Mütter- und Väterberatung. So entstehen mehr prekarisierte Lebenslagen, was fatal ist. Es gibt auf verschiedensten Ebenen Bemühungen für eine Entkoppelung von Migrations- und Sozialpolitik: Auf nationaler Ebene wurde die Petition «Armut ist kein Verbrechen» von Samira Marti eingereicht, welche jedoch von der staatspolitischen Kommission des Ständerats zurückgewiesen wurde. Auch auf kantonaler oder städtischer Ebene laufen verschiedene Aktionen dazu. Ein Beispiel ist die Stadt Basel, welche die Meldepflicht des Sozialamts gegenüber dem Migrationsamt auf ein Jahr herausgeschoben hat. In den Städten Luzern und Bern wurden Überbrückungshilfen für Menschen in Notlagen eingeführt, die aus Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen keine Sozialhilfe beziehen oder die Sans-Papiers sind. Diese Bemühungen, die Koppelung der Migrations- und Sozialpolitik zu umgehen, können in einzelnen Fällen Notlagen lindern. Es braucht jedoch dringend eine Gesamtlösung in der Schweiz.
Exkurs: Ausländerrechtliche Regelung – Worum geht es?
Die Einführung des neuen Ausländerintegrationsgesetzes, AIG, per 2021 führte zu einer noch engeren Kopplung zwischen ausländerrechtlichem Status und Sozialhilfe. Der Bezug von Sozialhilfe gehört […] zu jenen Integrationskriterien, die in die Beurteilung der Migrationsbehörden eingehen, wenn diese über die Erteilung, die Verlängerung oder den Widerruf von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen entscheiden. Damit ist die Inanspruchnahme eines grundlegenden sozialen Rechtes für die Migrationsbevölkerung potenziell risikobehaftet.
«Während über die Lohngleichheit derzeit stark debattiert wird, sind die Vermögensverhältnisse in der öffentlichen Diskussion noch immer ein ‘heisses Eisen’».
Eva Mey
In einer aktuellen Studie zeigen Sie, dass für Menschen mit wenig finanziellen Ressourcen sehr hohe Hürden bestehen, sich Bildung anzueignen.5 Welche Lösungen gibt es dafür?
Die wichtigste Empfehlung ist banal und gleichzeitig wird kaum darüber gesprochen: Im Armutskontext sollte Bildung nie an der Finanzierungscheitern, wenn Armutsbetroffene sich bilden wollen und in der Lage dazu sind – neben allen anderen Hürden, denen sie sich stellen müssen. Ein gutes Beispiel sind die kostenlosen «Lernstuben» für Menschen mit noch wenig Bildungserfahrungen. Im höherqualifizierten Bereich gibt es verschiedene Kantone, die bereits eine gute Stipendienregelung haben. Es gibt jedoch eine grosse Ungleichheit: Je nach Kanton werden unterschiedliche Ausbildungen und indirekte Bildungskosten finanziert oder nicht. Gerade die indirekten Bildungskosten sind entscheidend: Wenn Personen während ihrer Ausbildung nicht arbeiten können, fehlt ihnen das Geld, um ihre Familie zu ernähren. Deshalb verzichten sie oft auf Bildungsangebote.
Der zweite Punkt ist die Niederschwelligkeit: Wir müssen Menschen in den verschiedensten Lebenssituationen für Bildung erreichen und passende Angebote für sie anbieten. Dazu zählen unter anderen Personen, die mit Bildung schlechte Erfahrungen verbinden, Working-Poor oder junge Eltern. Für sie ist es wichtig, dass Angebote an Randstunden stattfinden, dass Bildung auch weniger klassisch vermittelt wird oder Arbeitgebende «on-the-Job-Module» zur Verfügung stellen. Der dritte Punkt beinhaltet alternative Bildungsmöglichkeiten, die ich als sehr wichtig erachte. Dies sind zum Beispiel Branchenzertifikate oder Validierungsverfahren, die es in manchen Berufen bereits heute gibt. Es geht dabei um die Sichtbarmachung und Anerkennung von Bildungsleistungen und Kompetenzen, die von einer Person im Beruf erworben wurden und nicht auf dem schulischen Weg. Es ist bei all diesen Massnahmen aber auch sehr wichtig zu sehen, dass Bildung nicht immer der richtige Weg aus der Armut ist. Armutspolitik muss deshalb viel breiter ansetzen, als nur auf Bildung zu fokussieren.
«Es braucht neben den vielen Einzelinstrumenten und kantonalen Lösungen grundlegende sozialpolitische Weichenstellungen auf nationaler Ebene, damit wir Ungleichheiten abbauen und die Existenzsicherung für alle ermöglichen können.»
Eva Mey
Wo gibt es in der Schweizer Sozialpraxis noch die grössten Lücken? Welche Massnahmen sind aus Ihrer Sicht notwendig, um diese zu schliessen?
Die Entkoppelung von Sozial- und Migrationspolitik ist hier klar zu nennen. Auch Anpassungen in der Altersvorsorge sind wichtig, also die bessere Absicherung von Menschen mit kleinen Einkommen. Eine weitere Lücke in unserem Unterstützungssystem sind Ergänzungsleistungen für Familien. Diese werden aktuell erst in zwei Kantonen angeboten, welche damit gute Erfahrungen gemacht haben. Es wäre sehr wichtig, Ergänzungsleistungen für Familien gesamtschweizerisch festzulegen, um eine breitere Wirkung zu erzielen. Daneben sind auch die Prämienverbilligungen für die Krankenkassen oder die Restprämienübernahmen kantonal sehr unterschiedlich umgesetzt. Teilweise sind diese Angebote in der Bevölkerung gar nicht bekannt, weil zurückhaltend informiert wird. Das ist fatal: Immer wieder zeigt sich im Nachhinein, dass Personen in Armutssituationen eigentlich Anrecht auf diese Leistungen gehabt hätten. Es braucht neben den vielen Einzelinstrumenten und kantonalen Lösungen grundlegende sozialpolitische Weichenstellungen auf nationaler Ebene, damit wir Ungleichheiten abbauen und die Existenzsicherung für alle ermöglichen können.
Ich bin überzeugt, dass die reiche Schweiz mehr tun könnte, um Notlagen zu verhindern. Denn es ist beschämend, wenn wir auf der einen Seite über Ansätze in der Sozialpolitik streiten und auf der anderen Seite strukturelle Bedingungen und Systemmängel zu solch prekarisierten Verhältnissen führen.
Der Gesellschaftsblog
Sandro Hodel ist 34 Jahre alt und kommt aus Zürich. Soziales und gesellschaftliches Engagement ist für ihn eine Herzensangelegenheit. Er arbeitet als Themen- und Projektleiter Soziales beim Migros-Kulturprozent und engagiert sich seit Jahren für Projekte, die den sozialen Zusammenhalt fördern.
Der Gesellschaftsblog ist ein privates, ehrenamtliches Projekt, welches einen Einblick in verschiedene Gesellschaftsthemen und die Arbeit von Menschen und Institutionen gibt.