* Dieser Beitrag erschien bereits auf dem Gesellschaftsblog.
Annemarie’s Augen glänzen als sie die Tür aufmacht, der Empfang ist herzlich. Die Alterswohnung ist ein kleines Bijou und gleichzeitig ein Museum voller Sammelobjekte und persönlicher Lebensgeschichten. Im Entrée fällt eine Parade von Holzfiguren unmittelbar ins Auge, daneben eine detailgetreue Szenerie eines Karussells und darüber an der Wand winterliche Naturbilder und Schaukästen mit Räuchermännern.
Ein mit Teppichen belegter Gang führt in ein kleines Ess- und Wohnzimmer, in welchem uns ein gedeckter Tisch mit Trauben und Biskuits erwartet. Im heimeligen Wohnzimmer finden sich weitere Sammlungen von Puppen und Steinen, daneben eine zwei Meter grosse, detaillierte Nachbildung einer Winterszenerie aus den 30er-Jahren. Den Miniatur-Weihnachtsmarkt hat Annemarie gemeinsam mit ihrem Mann liebevoll in Kleinstarbeit aus handgeschnitzten Holzfiguren aus dem Erzgebirge zusammengestellt. Annemarie putzt und staubt alle ihre Sammelobjekte regelmässig ab. Fast alles in ihrer Wohnung teilt eine Geschichte und Erinnerungen aus ihrem Leben, welche sie uns lebhaft und mit vielen Details erzählt.
Unterschiedliche Lebensgeschichten
Annemarie ist voller Energie, sanftmütig und hat einen wachen Blick. Sie hat ein bewegtes Leben hinter sich. Alle nahestehenden Freundinnen seien während der Pandemie verstorben. Deshalb schätze sie die Gesellschaft, welche sie in ihrer Alterswohnung sonst kaum mehr habe. Ihr zweiter Mann – ihre grosse Liebe – ist vor 12 Jahren gestorben. Über dem Bett prangt ein gerahmtes Foto von ihm. Ob wir wissen möchten, wie sie sich kennengelernt hätten, fragt Annemarie und beginnt zu erzählen. Es ist eine rührende Geschichte, welche nach 11 Monaten in einer gemeinsamen Hochzeit mündete und das schönste Kapitel in Annemarie’s Leben beginnen liess.
«Ich bin hier, weil ich noch eine Aufgabe zu erfüllen habe, nämlich für meinen Sohn da zu sein»
Annemarie
«Ich bin hier, weil ich noch eine Aufgabe zu erfüllen habe, nämlich für meinen Sohn da zu sein», erzählt sie. Nadja hört aufmerksam, interessiert und empathisch zu, den Blick auf Annemarie geheftet. Die 28-Jährige ist im Mai zur Nachbarschaftshilfe gestossen. Die beiden wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Aufgewachsen in Ravensburg in einem familiären Umfeld und mit einer engen Beziehung zu ihren Grosseltern ist Nadja vor zwei Jahren für ihre Ausbildung nach Zürich gezogen. Es sei ihr ein Anliegen, sich für die Menschen in ihrem Umfeld zu engagieren. Deshalb habe sie spezifisch nach Nachbarschaftshilfen gesucht und sei dabei auf die Genossenschaft Zeitgut Höngg-Wipkingen aufmerksam geworden.
Annemarie und Nadja sind eines von rund 90 Tandems der Nachbarschaftshilfe in Höngg-Wipkingen. Die Genossenschaft Zeitgut Höngg-Wipkingen umfasst knapp 220 Mitglieder und ist eine von 14 lokalen Nachbarschaftshilfen in der Stadt Zürich. Sie fördern und vermitteln die nachbarschaftliche Hilfe im Quartier, wie beispielsweise Einkäufe erledigen, jemanden zu Terminen begleiten oder Gesellschaft leisten. Menschen, die sich helfen, werden in sogenannten «Tandems» zusammengeführt.
Mehr unter: www.zeitgut-zuerich.ch
Bereichernde Begegnungen
«Wir treffen uns rund alle zwei Wochen», erklärt Nadja, «Dann trinken wir gemeinsam Kaffee, erledigen kleinere Arbeiten im Haushalt oder machen einen gemeinsamen Ausflug». Stolz zeigt Annemarie den Flyer eines klassischen Konzerts, welches sie gemeinsam besucht hatten. «Es waren Gratis-Karten, als Freiwillige nehmen wir sonst nichts an», ergänzt Nadja. Annemarie ist im Alltag immer noch selbständig unterwegs und erzählt von ihren Tagesausflügen nach Wädenswil, Einsiedeln oder Chur. Langweile kenne sie nicht, es gäbe immer etwas zu tun. Doch die Gesellschaft im Alltag fehle ihr schon. Die Treffen mit Nadja sind für Annemarie daher ein Segen und sie schätzt den unkomplizierten und herzlichen Austausch.
«Der Egoismus ist gross in der heutigen Zeit, gerade auch nach der Corona-Pandemie. Mir tut es gut, damit etwas Sinnvolles zu leisten».
Nadja
«Nadja ist wie eine Enkelin für mich», meint Annemarie. Auch Nadja geht jedes Mal zufrieden aus den gemeinsamen Treffen. «Es ist faszinierend, wie reich der Schatz an Lebenserfahrungen und Anekdoten von Annemarie ist. Das ist für mich enorm bereichernd und ich kann sie ab und zu um einen Ratschlag fragen. Es ist ein Geben und Nehmen. Unser Austausch gibt mir enorm viel zurück», schwärmt sie, «Der Egoismus ist gross in der heutigen Zeit, gerade auch nach der Corona-Pandemie. Mir tut es gut, damit etwas Sinnvolles zu leisten».
Engagement mit Herz
Die Offenheit und Sympathie zwischen den beiden ist spürbar. «Wir haben uns getroffen und es hat gleich gepasst. Dann haben wir uns auf der Stelle umarmt», erinnert sich Annemarie. «Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen für andere einsetzen», meint Nadja. In ihrem persönlichen Umfeld würden alle äusserst positiv auf ihr Engagement reagieren, doch die wenigsten liessen sich für ein eigenes persönliches Engagement überzeugen. Neben ihrer Arbeit als Wirtschaftsprüferin wird ihr auch im Privatleben nicht langweilig – Familie, Freunde, Wandern oder Volleyball sind nur einige ihrer Hobbies. Trotz ihres vollen Terminkalenders findet Nadja regelmässig Zeit für die gemeinsamen Treffen. «Mich für einen fixen Wochentag zu verpflichten, wäre schwierig. Die spontanen Treffen alle zwei Wochen lassen sich aber gut einplanen. Das ist auch eine Frage der Prioritäten», erklärt Nadja. Unter den Engagierten der Nachbarschaftshilfe finden mehrmals pro Jahr Zusammentreffen statt. Das gibt Gelegenheit, auch andere Engagierte kennenzulernen.
«Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen für andere einsetzen»
Nadja
Heute muss Nadja früher gehen als üblich. Sie hat noch gleichentags den Brief zur bestandenen Modulprüfung auf dem Weg zur diplomierten Wirtschaftsprüferin erhalten und geht noch mit Freunden darauf anstossen. Der Abschied ist herzlich mit einer Umarmung und zwei Küsschen auf die Wangen. Annemarie begleitet sie zur Tür und winkt zum Abschied. In rund 14 Tagen sehen sich die beiden wieder.
Der Gesellschaftsblog
Sandro Hodel ist 34 Jahre alt und kommt aus Zürich. Soziales und gesellschaftliches Engagement ist für ihn eine Herzensangelegenheit. Im beruflichen Teil konnte er einen Tag des sozialen Engagements (www.tag-der-guten-tat.ch) ins Leben rufen und Kontakte zu verschiedensten Organisationen und Institutionen im sozialen und gesellschaftlichen Bereich pflegen. Im Privaten haben ihn verschiedene Sozialeinsätze erfüllt, ihm einen Einblick in neue Lebenswelten verschafft und wertvolle Begegnungen ermöglicht.
Aus diesem Interesse ist der Gesellschaftsblog entstanden. Der Anreiz: einen Einblick in die Arbeit von Menschen und Institutionen gewinnen und dieses persönliche Herzblut und Engagement authentisch nach aussen tragen.