
«Nun war ich so lange weg von zu Hause und komme in ein ganz anderes Land zurück. Zum ersten Mal, seit ich auf der Welt bin, erlebe ich, dass in meiner Heimat die Waffen ruhen», erzählt mir meine Sitznachbarin Sandra auf dem Flug von Madrid in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá. Sie doktoriert in Kunst und befindet sich auf dem Heimweg von einem sechsmonatigen Forschungsaufenthalt in Valencia. Am Vortag, dem 23. Juni 2016, haben in der kubanischen Hauptstadt Havanna die Regierung Kolumbiens und die linke Guerillaorganisation FARC den dauerhaften Waffenstillstand unterzeichnet. Bevor mich Sandra nach unserer Ankunft zum Bankomaten und anschliessend zu einem jener Taxis begleitet, die laut der Flughafenpolizei «offiziell und sicher» sind, versichert sie mir, dass ich Kolumbien lieben werde: «Es ist ein echtes Paradies – und die Menschen hier sind so liebenswürdig!».
Bogota – erste Schritte in eine bessere Zukunft
«La paz es ahora» – die Inschrift an der Wand des «Zentrums für Erinnerung, Frieden und Versöhnung» ist etwas vom Ersten, das ich auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum der riesigen Stadt registriere. «Frieden ist jetzt», ein schöner Willkommensgruss. Wenig später stehe ich auf der Plaza Bolívar im Herzen Bogotás, wo gerade erst noch tausende KolumbianerInnen ausgelassen gefeiert haben. Es sind historische Zeiten in Kolumbien.
Wenn wir betonen, wie sicher wir uns fühlen und wie viele Vorurteile über das Land gar nicht zutreffen, ist die Freude gross.
Seit 1964, über fünfzig Jahre lang, befand sich das Land dauerhaft im Kriegszustand. Linke Guerillaorganisationen, rechte Paramilitärs und die kolumbianischen Streitkräfte führten einen blutigen Kampf. Die Wurzeln der gewaltvollen Geschichte des Landes liegen vor allem im extremen sozialen Gefälle zwischen arm und reich. Dieses kommt insbesondere in der ungleichen Verteilung des Landbesitzes zum Ausdruck.

Weit über 200’000 Menschen haben im Bürgerkrieg ihr Leben gelassen und mehrere Millionen wurden vor allem aus ländlichen Regionen vertrieben. Die Hauptstadt Kolumbiens ist nicht zuletzt deshalb so uferlos gewachsen, weil sie die neue Heimat für zahlreiche Vertriebene wurde. Wer auf dem Hausberg mit dem Namen Monserrate steht, kann die schiere Grösse des Molochs mit beinahe 8 Millionen Einwohnern kaum erfassen.
Medellìn – von der Drogenhölle zum Stolz der Nation
Untrennbar mit Drogenhandel verbunden ist die Stadt Medellín, die ich auf meiner Reise ebenfalls besuche. Im hügelig grünen Aburrá-Tal baute der aus der ländlichen Mittelschicht stammende Pablo Escobar sein Drogen-imperium auf. Das Medellín-Kartell wurde zwischen 1980 und 1990 zum grössten Kokain-Exporteur weltweit, Escobar zu einem der reichsten Männer – und Medellín zur «Mordhauptstadt der Welt». Auf dem Weg dorthin macht unsere Reisegruppe einen Zwischenhalt auf dem ehemaligen Anwesen Carlos Lehders. Er war ebenfalls ein Mitbegründer und gefürchteter Drogenbaron dieses Kartells. Die luxuriöse Anlage wurde nach seiner Verhaftung weitgehend abgebrannt, aber als Ruine stehengelassen. Sie erinnert an die von Gewalt und Skrupellosigkeit geprägte Parallelwelt des Drogenhandels, die Kolumbiens Vergangenheit so geprägt hat. Vor allem aber soll sie ein Mahnmal dafür sein, dass die Zukunft des Landes ganz woanders liegt. Besonders gespenstisch ist die Stimmung in der ehemaligen Disco, wo die von glitzernden Säulen umrandete Tanzfläche noch zu erkennen ist. Hier feierten Drogenmafiosi rauschende Feste.

Medellín trägt heute mit Stolz den Titel «innovativste Stadt der Welt», der ihr vom Wall Street Journal verliehen wurde. Mit internationaler Unterstützung hat die Stadtregierung vieles bewirkt. Zahlreiche Schulen und Bibliotheken wurden in den am Hang gelegenen Armenvierteln errichtet, SozialarbeiterInnen engagiert. Schwebebahnen erleichtern den BewohnerInnen den weiten Weg ins Stadtzentrum. Die düstere Vergangenheit der Stadt scheint auch im wohlhabenden, sehr internationalen Ausgehviertel, das ich am ersten Abend mit neu gewonnenen Reisefreunden besuche, irreal. Nur die Strassenhändler, die neben Süssigkeiten im Flüsterton auch Kokain anpreisen, erinnern kurz an Pablo Escobar.
Comuna 13 – die Farben der Hoffnung
Mehrere Rolltreppen bringen uns am nächsten Tag hoch zur Comuna 13. Den letzten Abschnitt erklimmen wir zu Fuss. Aufgeregt lachende Kinder kommen uns über die vielen Stufen hüpfend entgegen. Sie begrüssen uns stolz strahlend mit «hello», weil sie in der Schule nun Englisch lernen.

Bis vor wenigen Jahren wagte sich selbst die Polizei nicht in die Zone, wo Bandenkriege der Drogenmafia wüteten und Morde zur Tagesordnung gehörten. Der etwa dreissigjährige Manuel ist hier aufgewachsen. Er erzählt uns, dass er um jeden Tag froh war, den er und seine Mutter überlebten. Die Armenviertel, deren Bewohner längst die Hoffnung an ein besseres Leben verloren hatten, waren der beste Rekrutierungsort für die Drogenmafia. Die Comuna 13 wurde zu einem Ort, wo keine Gesetze mehr galten, wo nichts und niemand Schutz bot. Selbst unter den Leichen wurden noch Spreng-sätze versteckt, damit auch diejenigen in den Tod gerissen wurden, welche den Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollten. Manuels Mutter musste ihr Bett in die Küche verschieben, weil das Schlafzimmer direkt in einer Schusslinie lag. 2002 wurde die Comuna in einer grossangelegten Operation mit Unterstützung aus der Luft durch tausende Polizisten und Soldaten «geräumt». Die Intervention war höchst umstritten und führte während mehrerer Jahre zu einem Ausnahmezustand, langsam aber auch zu einem Umdenken. Heute ist die Comuna ein hoffnungsvoller Ort. Die Fassaden der Häuser sind farbig gestrichen und mit zahlreichen Graffitis verziert, die von Wandel und einem besseren Leben erzählen. Manuel ist stolz auf sein Quartier. Er betont aber auch, dass es vor allem nachts noch immer hin und wieder zu Gewalt kommt. Wandel braucht seine Zeit.
Cartagena – karibische Gastfreundschaft
An der kolumbianischen Karibikküste glaubt man, nicht mehr im selben Land zu sein. Das Wetter ist schwülwarm, die Haut der Menschen dunkler, die Kultur afrikanisch geprägt und das Leben gemütlich langsam, aber voller Lebensfreude. Cartagena mit seinen farbigen Häusern im Kolonialstil gilt als heimliche Perle der Karibik und wird von zahlreichen Kreuzfahrtschiffen angelaufen.

In den Tourismus wird grosse Hoffnung für die Zukunft des Landes gesetzt. «Warum seid ihr nach Kolumbien gekommen? Wo kommt ihr her? Gefällt euch unser Land?» sind die obligaten Fragen der Einheimischen, die wir in holprigem Spanisch beantworten. Englisch spricht hier kaum jemand. Wenn wir betonen, wie gut uns Kolumbien gefällt, wie sicher wir uns fühlen und wie viele Vorurteile über das Land gar nicht zutreffen, ist die Freude gross. Junge und ältere Einheimische bringen uns bis in die frühen Morgenstunden Salsa bei oder plaudern mit uns auf einer der Plazas, die immer voller Leben sind.

– Sarah Hämmerli
Immer wieder kommt zum Ausdruck, wie sehr sie sich wünschen, dass das Image ihres Landes international endlich besser wird. Es ist, als würden die Einheimischen in uns Botschafter für ihr Land sehen. Beinahe jede Begegnung endet nämlich mit der Bitte, zu Hause viel Gutes über Kolumbien zu erzählen.
Zurück in Bern – alle Zeichen auf Frieden
Wenige Wochen, nachdem ich wieder in Bern gelandet bin, wird in Cartagena der Friedensvertrag zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung unterzeichnet. Fast vier Jahre haben die Verhandlungen gedauert. Dann die grosse Enttäuschung, als der Friedensvertrag vom Volk mit 50.2 Prozent abgelehnt wird. Nach dem gescheiterten Referendum ist aber sofort spürbar, dass die Regierung und die FARC alles daran setzen wollen, Kolumbien dennoch in den dauerhaften Frieden zu führen.

Überzeugt, dass der Frieden kommen wird, ist auch Jairo aus Manizales im kolumbianischen Kaffeedreieck. Er lebt seit zwölf Jahren mit seiner Schweizer Frau in Bern. Mit seinem Café La tienda de Juan an der Aarbergergasse 55 hat er einen Begegnungsort geschaffen, wo er vielen Menschen von seiner echten Heimat erzählen kann, die er über alles liebt. Kaum schliesst sich die Tür des winzigen Cafés mit nur zwei Tischen hinter mir, tauche ich wieder ein in die kolumbianische Gastfreundschaft. Jairo erzählt mir bei einem Cappuccino mit Honig von seiner Kaffeeplantage in Kolumbien. Die Korruption in seinem Land sei nach wie vor sehr gross. Für ihn sei es deshalb einfacher, von der Schweiz her etwas in der Heimat zu bewirken. Sein Traum ist es, gemeinsam mit der Regierung im Dorf, wo seine Kaffeeplantage liegt, auch eine Schule aufzubauen. Als ich zum zweiten Mal bei ihm vorbeischaue, um im richtigen Ambiente an diesem Text weiterzuschreiben, ist in Kolumbien gerade ein neuer Friedensvertrag unterschrieben worden.
Jairo meint, dass dieser nun wohl durchkommen wird, da voraussichtlich lediglich das Parlament darüber entscheiden soll. Volksabstimmungen seien in seinem Land leider immer schwierig, weil viele PolitikerInnen die BürgerInnen gezielt zu manipulieren versuchen. Selbst wenn es noch ein langer Weg sein wird, bis Kolumbien die Wunden des jahrelangen Krieges verarbeitet hat, wäre der dauerhafte Frieden ein ganz wichtiger Schritt. Der Grundstein für eine Versöhnung zwischen Opfern und Kämpfern scheint gelegt. Gerade in den Departementen, in denen der Konflikt besonders viele Opfer gefordert hat, haben am meisten Menschen zum Friedensvertrag ja gesagt. Sie sind bereit, zu verzeihen – für ein besseres Kolumbien. Und damit wollen sie nicht länger warten. ¡La paz es ahora!
