Rex war vierzig, frisch geschieden und ziemlich deprimiert. Der Richter hatte ihn, den Bundesbeamten, auf’s Existenzminimum gesetzt. Den Rest seines Einkommens erhielten seine pubertierende Frau und seine untreue Tochter. Pardon, habe ich da etwas verwechselt? Rex grübelte nächtelang über Fragen wie: Was soll ich jetzt noch tun mit dem Rest meines armseligen Lebens? Ich würde gerne den Nabel der Welt entdecken. Doch wo ist der?
Vor rund dreissig Jahren war der Götti von Rex ausgewandert – ohne je seine neue Adresse mitzuteilen. Einfach so. Der geheimnisvolle Alois war im Emmental in einer frommen Familie aufgewachsen und hatte in der Garage seines Vaters Automechaniker gelernt. Alois habe aber schon bald erklärt, in diesem geistig und landschaftlich engen Loch wolle er nicht länger leben, als unbedingt nötig.
Der Brief trug keinen Absender, aber eine Marke aus Brasilien.
Erst als Rex volljährig wurde, erhielt er von Götti Alois einen Brief mit folgenden Worten: «Ich gondle in der Welt herum und wünsche dir auch ein freies Leben. Wer den Himmel über sich wahrnimmt, braucht keine frommen Sprüche.» Beigelegt war eine Hundert-Dollar-Note. Der Brief trug keinen Absender, aber eine Marke aus Brasilien. Danach verstummte Götti Alois wieder.
Rex lebte nach seiner Scheidung provisorisch in einem Zimmer einer billigen Pension. Er hatte nach der Scheidung nur seine Kleider und sein Handy mitgenommen. Kurz vor Ostern erhielt er überraschend einen Brief aus Panama. Ein Anwalt schrieb ihm, er, Rex sei von Alois als einziger Erbe genannt. Es wäre nützlich, wenn er bald nach Panama-Stadt kommen könnte. Das gab Rex einen Energieschub. Er nahm sofort Ferien und hob das Geld von einem geheimen Sparkontos ab, das er vor seiner Frau gerettet hatte. Er hätte Alois gerne gefragt, wo denn der Nabel der Welt sei. War es nun zu spät dafür oder gab ihm Alois nach seinem Ableben eine Antwort? Der Panama-Kanal verbindet den Atlantik mit dem Pazifik. Das könnte doch wirklich der berühmte Nabel sein!
Erst auf dem Flug überlegte sich Rex, ob er vielleicht nur eine Blechhütte in einem Slum und ein verrostetes Auto erben würde oder doch ein nettes Häuschen am Meer?
Der Anwalt hatte englisch geschrieben. Um Juristisches zu verstehen, würde er wohl einen Übersetzer benötigen – wenigstens, wenn es um mehr als ein paar Dollar ginge. Er würde im Hotel fragen.
Rex war noch nie so weit geflogen. Weil er sehr gespannt war, kam ihm die Reise furchtbar lange vor. Trotz klimatisiertem Zimmer schlief er in Panama schlecht und wanderte im Zimmer auf und ab. Ein Taxi brachte ihn am nächsten Tag zu einem grossen Bürogebäude im Hafenviertel.
Die Sekretärin des Anwalts empfing ihn freundlich und fragte auf Deutsch, ob es ihm recht sei, wenn sie übersetze. Rex war überrascht, sagte gerne zu und gab ihr die verlangten Papiere. Nach längerer Wartezeit kam der braungebrannte Anwalt im Massanzug jovial auf ihn zu und führte ihn in ein luxuriöses Besprechungszimmer, wo er sich gleich einen Drink aussuchen durfte. In seinen alten Klamotten kam sich Rex etwas schäbig vor, richtete sich aber gerade auf, um doch einen guten Eindruck zu machen und trank einen Whiskey.
Zur Eröffnung las die Sekretärin einen Brief vor, in welchem Alois seinen letzten Willen folgendermassen begründete: «Lieber Rex, ich lebte vor allem auf den Meeren. 1995 hatte ich das Geld beisammen, um mir ein Containerschiff zu kaufen, das ich dann selbst steuerte. 2010 wechselte ich auf meine Segeljacht, die ich 2013 mit einer privaten Pflegerin teilen musste, weil ich krank wurde. Damit du die Schiffe nicht verkaufen musst, hinterlasse ich dir noch etwas Geld. Du bist der einzige Verwandte, den ich mir als Skipper vorstellen kann. Ahoi! Dein Götti Alois.»
Rex kamen unwillkürlich die Tränen. Der Anwalt und die Sekretärin kondolierten ihm überschwänglich und drängten ihm einen einheimischen Schnaps auf.
Das Testament war kurz gehalten. Trotz Übersetzung verstand Rex nicht viel mehr, als dass er jetzt plötzlich reich war und ein neues Leben beginnen musste. Erfreulich, aber nicht einfach. Die Sekretärin und der Anwalt zeigten ihm sodann Bilder der Jacht und des riesigen Containerschiffes, das gleich morgen den Panama-Kanal passieren werde. Der Kapitän werde ihn selbstverständlich mitnehmen, wenn er das wünsche. Die Segeljacht sei vor Anker, werde von Alois‘ Pflegerin bewohnt und von einer Sicherheits-Firma bewacht.
Ausgerüstet mit einigen neuen Ausweisen und zwei Ordnern voller Dokumente verliess Rex das Gebäude und wollte ein Taxi bestellen, fand jedoch sein Handy nicht. War es ihm bereits gestohlen worden? Und wenn ja: War das ein Hinweis, sich von allem Alten zu trennen? Kaum war er ein paar Schritte vom Gebäude entfernt, hielt ein Taxi und brachte ihn ins Hotel, wo er die Ordner im Hotelsafe verstauen liess. Nach einem Glas Wasser und einigem Kopfschütteln liess er sich zu seiner neuen Jacht fahren. Ein Wachmann führte ihn auf das Schiff. Er schwankte nicht nur wegen des genossenen Alkohols, sondern noch mehr, weil er schlicht überwältigt war vom Anblick des Luxusschiffes, von seinem Glück und von der Schönheit der Pflegerin. Er meldete sich noch gleichentags in der besten Segelschule als Schüler an, um baldmöglichst das Hochsee-Brevet zu erlangen.
Rex trat in die Fussstapfen von Alois, lernte Sprachen und unternahm immer grössere Segeltouren. Und das zusammen mit der Pflegerin von Alois und ihren zwei Kindern, denn sie hatte ein Wohnrecht auf dem Schiff – zu seinem heimlichen Glück. Rex lernte von einem freundlichen, alten Reeder, wie er sein Containerschiff auf dem umkämpften Markt richtig einsetzen konnte. So fand er wichtige Aufgaben und einen neuen Sinn in seinem Leben.
Er meldete sich nie mehr bei seiner Familie in der Schweiz. Erst als seine Tochter volljährig wurde, schrieb er ihr auf eine Weltkarte den folgenden Gedanken: «Liebe Sara, suche den Nabel der Welt, aber suche ihn nicht an deinem Bauch. Viel Glück! Dein verschollener Vater.»
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