

So viele Fotos
Annina Reusser (23)
Und ich dachte noch, ich hätte mich beschränkt. Nur zwei meiner fünf dicken Fotoalben bringe ich mit; darin komprimiert knappe fünf Jahre Lebenszeit, auf Hochglanzpapier, 13×9 Centimeter. Vor den Alben sass meine Mutter nächtelang und klebte Fotos ein, bis ich etwa sieben Jahre alt war. Dann ungefähr wechselte mein Vater von seiner analogen Spiegelreflex- auf eine kleine Digitalkamera.
So hieve ich die zwei schweren Fotobände auf den Tisch und blicke leicht beschämt auf das, was meine Gesprächspartnerin mitgebracht hat: Einen schmalen Ordner und eine Handvoll einzelner Fotografien in Schwarz-Weiss. Sie zeigen meistens spezielle Anlässe: Geburtstage, Weihnachten, Ferien; die ganze Familie versammelt.

Blättere ich durch meine Alben, finde ich all das auch. Aber auch viel mehr: Ich als Zweijährige, mit dreckverschmiertem Kinn im Sandkasten, oder wie ich auf dem Spielzeug-Bügeleisen Papas Unterhemd bearbeite. Ganz Alltägliches also. Im Unterschied zu Silvia besitze ich viel mehr Bilder aus meiner Kindheit, und das bereits, ohne die digitalen Bilder einzurechnen. Denn da hat die Entwicklung, mehr und mehr zu fotografieren, erst recht einen Sprung genommen: es braucht keinen teuren Film mehr, der nach 36 Bildern schon voll ist.
In Zeiten, wo alle ein Smartphone haben, das fast die besseren Bilder macht als Kompaktkameras, darf man sich fragen, warum man noch eine Kamera mitnehmen sollte. Die Bilder sind blitzschnell der ganzen Familie verschickt. Nur sehen wir die Unmengen an Fotos gar nicht, weil wir die Alben nicht mehr auf den Tisch hieven – wir merken es nur, wenn wir zwischen Landschaften und Selfies dieses eine Bild nicht mehr finden. ☐
So fern, so nah
Silvia Maria Skerlak (64)
Da liegen sie also auf dem Tisch, die Erinnerungen an meine Kindheit. Kleine, von einem weiss gezackten Rand umrahmte, abgegriffene Fotos in schwarz-weiss. Ich habe sie gerade eben hervorgeholt, sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr angeschaut. Gibt es einen roten Faden zum Heute?

Dies ist mein Lieblingsbild: Stolz präsentiere ich meinen Teddy dem Fotografen (links). Im Hintergrund sehe ich die riesige Bücherwand meines Vaters, Bücher und Bildbände vom Boden bis an die Decke. Ich rieche förmlich den Duft von Druckerfarbe, spüre das glatte, glänzende Papier mit meinen Händen, tauche ein in Geschichten und Bilder. Ja, das fühlt sich sehr vertraut, sehr schön an. Lesen nimmt auch in meinem heutigen Leben viel Raum ein. Mein Vater war Lehrer, ich bin auch Lehrerin. Und mein geliebter gelber Teddy, der einfach «Bäär» heisst, ist noch immer da. Auf dem zweiten Bild fallen mir die selbst gestrickten Babykleider auf, welche meine Mutter für mich angefertigt hatte. Schade, sind die Fotos nur schwarz-weiss. Gerne wüsste ich, in welche Farben ich da eingepackt war. Wie einfach das alles aussieht im Gegensatz zu den heutigen topmodischen und praktischen Babykleidern. Ein Schmunzeln kann ich mir nicht verkneifen: Ich habe später für meine Tochter selber ein solches Babyjäckli gestrickt.
Meine Gedanken kommen zurück in die Gegenwart, zu Annina. Ihre Fotos lassen mich an einem ganz anderen Leben teilhaben, helfen mir, sie ein wenig besser kennenzulernen. Fotos können Türöffner sein zu Räumen der ganz persönlichen Vergangenheit, die uns prägt, bewusst oder unbewusst, die Spuren in uns hinterlässt. Manche Spuren werden zu richtigen Wegen, andere verwischen mit der Zeit. ☐