Da entwickelt sich etwas ganz gemütlich, wie dieses Coronavirus. Und dann plötzlich steigert sich die Kurve ins Unheimliche. Dazu gibt es die eindrückliche Geschichte von den Tücken des Schachbretts.
Der indische König Sher Khan war so begeistert vom neu erfundenen Schachspiel, dass er dem Erfinder versprach, ihm einen Wunsch zu erfüllen, auch wenn dieser noch so gross wäre. Der Mann bat um Reiskörner, und zwar auf Feld 1 des Schachbrettes ein Reiskorn, auf Feld 2 zwei Reiskörner, dann vier, dann acht … jedes Mal das Doppelte. Der König lachte ihn aus und meinte, er solle nicht so bescheiden sein, sondern sich etwas Richtiges wünschen. Doch der Mann blieb dabei, und der König gab Befehl, ihm diese paar Reiskörner auszuhändigen.
Anfangs ging das gut. Beim zehnten Feld waren es gut 1000 Körner. Bei Feld 25 wurde es schon ungemütlich: es waren bereits 16 Millionen. Das waren immerhin respektable 480 Kilogramm. Da holte man einen weisen Mathematiker. Dieser sollte ausrechnen, wie das schliesslich enden sollte. Seine Rechnung ergab – und sie stimmt heute noch –, dass der König dem klugen Erfinder gut 18 Trillionen Reiskörner schulde, also etwa 540 Milliarden Tonnen. Der König musste aufgeben. Doch klug wie er war, machte er den schlauen Erfinder zu seinem gutverdienenden persönlichen Berater.
Folgen Sie uns nun, wenn wir uns in das Geheimnis der exponentiellen Zahlen einarbeiten.
Epidemien
Exponentialfunktionen werden gebraucht, um Wachstum und Zerfall zu beschreiben. Bei exponentiellem Wachstum über genügend lange Zeit entstehen exorbitante, also gewaltig hohe Zahlen, die alle Erwartungen sprengen, wie auch die Geschichte des Königs veranschaulicht. In der Praxis ist ein so dramatisches Wachstum aber auf Dauer gar nicht möglich. Das Wachstum von Bakterien wird irgendeinmal begrenzt durch Konkurrenten, Feinde oder endliche Nahrungsquellen. Die Verbreitung von Corona kann mit Hygiene- und Abstandsmassnahmen gebremst werden. Auch eine Atombombe stoppt, sobald nicht mehr genügend spaltbares Material vorhanden ist.
Die Corona-Epidemie ist momentan in aller Munde. Die Medien sind voller Grafiken mit den Anzahl Infizierten, die je nach Zeitpunkt und den ergriffenen Massnahmen exponentiell stiegen, jedoch auch abflachten und nach unten gedrückt wurden. Epidemien stellen unsere Welt auf den Kopf. In den letzten 20 Jahren gab es viele Ausbrüche von Krankheiten, wie zum Beispiel Ebola, Cholera, Schweinegrippe, SARS und MERS. Immer wieder springen Krankheitserreger von Tieren auf Menschen über. Sie nehmen weltweit zu. Denn Bevölkerungswachstum, Naturzerstörung, Artensterben und Klimawandel fördern ihre Entstehung und Ausbreitung.
Eine Epidemie, die durch Infektionen mit Bakterien oder Viren verursacht wird, breitet sich durch die Übertragung dieser Krankheitserreger zwischen Menschen aus. Ein solcher Übertragungsvorgang wird in einer Bevölkerung umso wahrscheinlicher, je mehr Menschen bereits infiziert sind. Solange die Wahrscheinlichkeit, dass ein Infizierter jemand anderes ansteckt, konstant und hoch genug bleibt, kommt es zu einem exponentiellen Wachstum.
Werden Massnahmen getroffen und dadurch werden weniger Personen infiziert, flacht die Kurve ab und sinkt vielleicht sogar ab. Rot ist die Kurve ohne Massnahmen, und grün die Kurve mit Massnahmen. Der Unterschied der Kurven, ob Massnahmen getroffen werden oder nicht ist wirklich immens.
Bakterienwachstum
Als zweites Beispiel stellen wir hier die hypothetische exponentielle Entwicklung von Bakterien in den ersten 24 Stunden vor.
In den ersten 20 Stunden ändert sich sehr wenig. Danach geht plötzlich die Post ab. Es sieht so aus, als würde das Wachstum erst hier loslegen. In Wirklichkeit ist das relative Wachstum die ganze Zeit lang konstant. Jede Bakterie verhielt sich von Anfang an gleich wie später, und in jeder einzelnen Stunde steigt ihre Anzahl um den gleichen Faktor. Wegen der Langsamkeit am Anfang wird das exponentielle Wachsen häufig unterschätzt. Nur nimmt die Wachstumswahrscheinlichkeit ständig zu und wird irgendwann riesig. Früher oder später wird jedoch exponentielles Wachstum an seine Grenzen kommen. Denn sobald die Bedingungen (z. B. Nahrung) nicht mehr passen, kommt es zu einem Abflachen und sinkt irgendwann ab. Auch Bakterien können nicht unendlich wachsen.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Essensresten haben mit Bakterien zu tun. Reis und Pasta können das Bakterium Bacillus cereus enthalten. Sobald sie im Wasser aufgequollen sind, bieten sie dem Bakterium einen Lebensraum, sich zu vermehren. Solange der Reis kocht, vermehren sich die Bakterien nicht, die Bakterien sterben allerdings auch nicht ab. Lassen wir den Reis nach dem Kochen eine Weile ungekühlt stehen, können sich die Bakterien vermehren. Wie lange ist der gekochte Reis dann noch sicher? Der Reis sollte nicht länger als eine Stunde ungekühlt im Raum stehen. Sinnvoll ist es, den gekochten Reis etwas abkühlen zu lassen und dann direkt in einem geschlossenen Behältnis im Kühlschrank zu lagern. Der Reis sollte nicht länger als einen Tag im Kühlschrank bleiben.
Kaffee
Es ist nicht gleichgültig, in welchem Moment Kaffeerahm zum Kaffee zugegeben wird. Die Abkühlung von Kaffee ist eine exponentielle Abnahme.
Nur noch drei Minuten Zeit, den Kaffee zu trinken, bevor der Zug abfährt? Wann genau soll ich den Rahm zum Kaffee hinzugeben, damit dieser nach zwei Minuten möglichst kühl ist? Die Zeit muss noch reichen, um den Kaffee zu trinken. – Der Kaffee ist nach zwei Minuten kälter, wenn man den Rahm erst kurz vor dem Trinken hinzugibt. Wieso? Die Kaffeetemperatur nimmt allmählich die Umgebungstemperatur an. Am Anfang geht das viel schneller, da der Temperaturunterschied zwischen Kaffee und Lufttemperatur gross ist, dann immer langsamer.
Der kalte Kaffeerahm kühlt das Getränk gleich schnell ab, egal, wann wir den Kaffeerahm dazu geben. Jedoch sinkt die Temperatur des Kaffees schneller, wenn wir eine grosse Temperaturdifferenz haben. Das nutzen wir aus. Würden wir den Kaffeerahm von Anfang an dazugeben (rote Linie), wäre die Temperaturdifferenz kleiner und der Kaffee kühlte weniger schnell ab. Geben wir den Kaffeerahm jedoch erst gegen Ende dazu (grüne Linie), hat der Kaffee lange Zeit, sich abzukühlen. Damit bringen wir ihn kurz vor dem Trinken mit der Zugabe des Kaffeerahms auf eine niedrigere Temperatur, als wenn wir den Kaffeerahm von Anfang an dazugegeben hätten.
Atombombe
Das klassische Beispiel für exponentielle Vorgänge ist die Atombombe.
In einer Atombombe wird eine nukleare Kettenreaktion ausgenutzt, die über einen Zeitraum von wenigen Millisekunden zu einem massiven exponentiellen Anstieg der erzeugten Strahlung und freigesetzten Energie führt. Dies ist deshalb möglich, weil die Kernspaltung bestimmte Atome, nämlich Neutronen, freisetzt, die wiederum die Spaltung weiterer Atome auslösen können. Bei jeder einzelnen Spaltung wird eine Energie von 150 bis 200 Mega-Elektronenvolt (MeV) freigesetzt. Das Wachstum der Neutronenstrahlung und der Energiefreisetzung ist exponentiell, solange noch genügend spaltbare Atome verfügbar bleiben.
Radioaktiver Zerfall
Ein Beispiel für exponentielle Abnahme ist der radioaktive Zerfall.
Atomkraftwerke produzieren für uns Strom. Aber dabei entsteht auch radioaktiver Atommüll. Diese radioaktiven Stoffe müssen sicher eingelagert werden – und deren Zerfall kann Millionen von Jahren dauern… Atomkerne können spontan oder durch Beschuss mit schnellen Teilchen zerfallen. Die Stärke der radioaktiven Strahlung nimmt mit der Zeit exponentiell ab. Dabei zerfallen in gleichen Zeiten immer die gleichen Anteile von Kernen des Ausgangselements. Die Halbwertszeit gibt an, in welcher Zeit die Hälfte der vorhandenen instabilen Atomkerne in Kerne eines anderen chemischen Elements zerfallen. Sie ist für jedes radioaktive Nuklid (z. B Kohlenstoff 14 oder Plutonium 239) charakteristisch und schwankt zwischen Bruchteilen von Sekunden und Milliarden Jahren.
Für das Abklingen der Strahlung von radioaktivem Müll aus Atomkraftwerken braucht es mindestens 100‘000 Jahre. Ist es möglich, eine Deponie zu bauen, die den radioaktiven Abfall für eine sehr lange Zeit sicher verwahrt? Von 2021 bis 2024 werden die Brennelemente vom Atomkraftwerk Mühleberg ins zentrale Zwischenlager (Zwilag) in Würenlingen transportiert. Von dort aus sollten diese dann in ein geologisches Tiefenlager kommen, in mehreren 100 Metern Tiefe, in geeignete geologisch stabile Gesteinsschichten.