
Die Gräfin erscheint vor dem Rathaus in einem prachtvollen Gewand und mit der Handfeste in der Hand. Sie begrüsst ihren heutigen Co-Stadtguide und eine Gruppe der UntertanInnen. Meine junge UND-Kollegin ist von der Gräfin sehr angetan, sie scheint geradezu mit ihr zu verschmelzen…
Wie ich mich auf diese Führung mit den Thunern und Thunerinnen freue! Meine Stadt auch nach 750 Jahren in diesem Glanz und dieser Pracht wiederzufinden, erfüllt mich mit Freude. Seit der Überreichung der Handfeste hat sich so vieles verändert, und doch erkenne ich meine Lieblingsecken wieder.
Am 12.März 1264 erteilte die Gräfin Elisabeth von Kyburg der Siedlung unter dem Thuner Schloss die Stadtrechte (Handfeste). Die auf Lateinisch formulierte Handfeste war ein Privileg. Sie hob die Stadt gegenüber ihrem Umland, und Bürger gegenüber Nichtbürgern, ab. Das Zusammenleben in der Stadt regulierten Satzungen – Vorschriften, die später von Ratsherren verfasst wurden. Aus diesen Ergänzungen zur Handfeste liest uns Gräfin Elisabeth, alias Laienschauspielerin Sandra Kummer, einige der 105 Artikeln vor. Natürlich nicht auf Lateinisch, sondern auf Deutsch, da die Urkunde 1316 in eine einfache Volkssprache und vor 50 Jahren, zum 700-Jahre-Jubiläum, ins Neuhochdeutsche übersetzt wurde. Zu jedem alten Gesetz findet Jon Keller, Altarchivar Thuns, ein heute Geltendes. So begleitet uns ein Dialog der alten und der neuen Gesetzgebung beim eineinhalbstündigen Rundgang durch die Altstadt.
Ich sehe, dass der Platz, auf dem einst die alte Mühle stand, heute ein beliebter Treffpunkt für die Thuner Jugend ist. Das Gewerbe der Müller gehörte zu meiner Zeit zu den wichtigsten, waren sie doch diejenigen, die als fleissigste Nahrungslieferanten unsere Burger ernährten. Nun stehen hier viele Gaststätten, in denen sich die Thuner austauschen und gemeinsam lachen können. Der Mühleplatz scheint also immer noch einer der wichtigsten Orte unserer Stadt zu sein.
Wie gut, dass die Gräfin 1989, im Jahre meiner Wohnsitzname in Thun, «den Mühli» nicht gesehen hat! Damals stimmten die ThunerInnen dem Abbruch der alten Mühle zu. Bevor der Platz seine heutige, einladende Gestaltung nahm, herrschte dort einige Jahre eine gähnende Langeweile.

Über die alte Mühleschleuse zu schlendern ist wirklich etwas Besonderes. Diese war einmal ein beliebter Ort zum Fischen gewesen. Heute lockt sie viele Reisende an, die sich an ihrer Schönheit erfreuen.
Im Mittelalter blühte der Fischmarkt bei der Sinnebrücke. Die Gräfin lässt uns wissen, dass Händler, die verdorbenen Fisch verkauften, mit einer Geldstrafe und einem vierzigtägigen Verkaufsverbot belegt wurden. Dann übergibt die edle Dame liebenswürdig das Wort an den Chronisten – so hiess in ihrer Zeit der Berufsstand von Jon Keller. «Die Laichenzeit galt damals wie heute als eine Fisch-Schonzeit», ergänzt der Chronist, «Kormorane waren die grössten Feinde der Fischer, also wurden sie von diesen bekämpft.
Von der Schleuse schreiten wir zum Schloss. Ach, mein Schloss! Es ist immer noch das Wahrzeichen dieser Stadt und ragt aus ihr empor wie ein Fels in der Brandung. Von hier aus sieht man nämlich ganz Thun, mit seiner wunderschönen Altstadt, seinen zahlreichen Brücken und natürlich dem atemberaubenden Thunersee.
Beim Anblick eines Brunnens am Schlossberg verliest uns die Gräfin einen Artikel der Handfeste, welcher der Allgemeinheit den freien Zugang zum Wasser garantierte.

Beim Nutzen des Wassers waren Thuner und Nicht-Thuner gleichgestellt. Nicht so, wenn es um ein Vergehen ging. Wenn ein Nicht-Burger einen Burger beleidigte, durfte dieser unbestraft den Fremdling verprügeln oder ihm eine «Maulschelle» verpassen. «Heute undenkbar», kommentiert Jon Keller, «Die Ehrenverletzung wird gegenwertig mit der Geldstrafe oder bis zu 90 Tageseinsetzen gebüsst. Aber unbestraft den Schuldigen verprügeln zu dürfen – sowas gibt‘s nicht mehr»
Die Lebensumstände der Thunerinnen und Thuner scheinen sich sehr verändert zu haben. Denn mir fällt auf, dass weder an diesem Brunnen noch an der Aare Frauen zu sehen sind, die mühsam die schmutzige Wäsche ihrer hart arbeitenden Männer zu waschen versuchen.
Stattdessen sitzen viele junge Frauen am Fluss oder auf dem Mühleplatz und geniessen die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings, sich fröhlich mit Bier zuprostend. Zu meiner Zeit unvorstellbar, denn Bier war den Männern in der Schenke vorbehalten.
Die Handfeste besagte, dass ein Wirtshaus niemandem einen Besuch verwehren durfte, ausser beim ungebührlichen Verhalten oder Zechprellerei. Sollte sich ein Nicht-Burger solches Vergehens schuldig gemacht haben, durfte er vom Wirt so lange festgehalten werden, bis er die Zeche bezahlt hatte.
Auch die Ankleidung hat sich gewandelt. So tragen die Frauen heute enge Hosen und kurze Mäntelchen. Bei diesem Anblick bin ich doch froh über mein schönes, langes und weites Gewand, in welchem ich gemütlich durch diese wunderschöne Stadt spazieren kann. Wie hätten diese Frauen in einer solch unbequemen Ankleidung nur auf dem Land arbeiten können?
Die Gräfin erinnert sich an viele grüne Flächen in Thun, wo friedlich Ziegen, Schafe und das Vieh grasten. Es war höchste bürgerliche Pflicht darauf zu achten, dass das Regenwasser die Misthaufen vom eigenen Gelände nicht zum Nachbarn ausspülte. Na ja, heute haben wir das Problem nicht mehr. Obwohl, was den damit verbundenen schlechten Geruch angeht, haben sich einzig die Ursachen und die Abgase verändert. Sichtlich wird dies, als unsere beim Abstieg vom Schloss in die Länge gezogene Gruppe die Untere Hauptgasse überqueren will: Um die etwa dreissig Personen mächtige Gruppe passieren zu lassen, stauen sich Autos der Strasse abwärts.

Der besondere und sehr informative Spaziergang nähert sich dem Ende zu. Ganz Kavalier, resümiert der Chronist: «Frau Gräfin, der heutige Tag, den ich mit Ihnen verbringen darf, ist der schönste Tag in meinem Leben!»,
Sehr charmant, dieser Chronist! Ich habe die Führung mit ihm und den Burgern sehr genossen und bin erfreut zu sehen, dass Thun in all der Zeit seit der Handfeste seine Schönheit beibehalten hat. Ich hoffe, dass es auch nach 750 weiteren Jahren so sein wird.
Tanja Mitric (19) schlüpfte für diesen Bericht in die fiktive Rolle der Gräfin Elisabeth. Barbara Tschopp (63) beobachtete die Führung aus der Sicht des 21. Jahrhunderts.
Sehr gut gestalteter Beitrag. Ich bin gerührt.
Danke Barbara und Tanja!
Die beiden Perspektiven finde ich interessant: Die Überlebende Gräfin mit ihrer 750-jährigem Erfahrung und die Besucherin der Führung aus dem 21.Jahrhundert.