
Wie, mit welcher Motivation sind sie zur Medizin gekommen? Oft gilt das Muster: «Ich wollte schon als Kind…» – zumindest «etwas mit Menschen»; einige hat die Familie darauf vorbereitet, wenn sie etwa zum «Sozialkuchen» gehört, wie Elvira sagt; oder wenn der Vater schon als Arzt in Afrika gewirkt hat. Oder wenn jemand, wie Nadja, bereits früh ein behindertes Kind gehütet hat. Prägende Eindrücke können auch später kommen: Da ist Elvira im Praktikum von der Leidenschaft der Pflegenden beeindruckt. Oder Heinrich sieht im Studienplan die Chance, auch in der Dritten Welt arbeiten zu können.
Es geht auch auf Umwegen: Nadja hat mit einer kaufmännischen Ausbildung angefangen; Beat gar zehn Jahre in der Büro-Welt gearbeitet, bevor er, als Administrator zunächst, die Naturheilkunde kennengelernt hat. «Helfen ohne grosse Apparatur» hat ihn angezogen.
Helfen wollen allein reicht nicht, betont Wolfgang. Man muss sich auch für die Sache interessieren, Wissen sammeln. Und man muss die Menschen, gerade die, die es zu einem verschlägt, gern haben. Nadja fragt ihre Lernenden stets: «Bist du mit dem Herzen dabei?»
Anna und Elvira haben sich für die Psychiatrie entschieden, obschon sie von Kolleginnen hören: «Lieber du als ich». Beide sind jedoch überzeugt, dass sie da auf einem Gebiet und mit Menschen arbeiten, die gesellschaftlich zu wenig akzeptiert sind – dabei sind diese Menschen zwar wohl «krank», aber doch «Menschen wie du und ich», meint Anna.
Was ist meine Rolle?
Stehst du über den PatientInnen, etwa weil du, in einer Klinik, den Schlüssel hast? Das würden alle hier bestreiten. Aber – so Heinrich – es geht darum zu wissen: «In welcher Rolle bin ich in welchem Moment?» In der genossenschaftlichen Praxis, die Wolfgang seinerzeit mit aufgebaut hat, hiess es: «Der Patient/die Patientin ist mündig». Die Mediziner sollen ihnen alles offenlegen. Es bleibt allerdings dabei, die ÄrztInnen sind diejenigen, die mehr wissen. Aber sie können auch eine «Begleiter-, eine Advokaten-Rolle» übernehmen, etwa indem sie sich in die PatientInnen versetzen, die SpezialistInnen gegenübertreten.
Da taucht die Frage nach den – nur vielleicht veralteten – Hierarchien auf. Für Beat, der mit Akupunktur Augenleiden behandelt, stellt sie sich so: Gewisse AugenärztInnen haben für ihre Kundschaft keine Zeit; sie gehen fast «fabrikmässig» vor, vollziehen rentable Behandlungen, aber geben kaum Erklärungen ab. Da fällt ihm die Rolle des «Coaches oder Aufklärers» zu.
Nadja, die Haus-Pflegende, erfährt immer wieder, dass «die Spitex schuld ist», wenn etwas anscheinend schlecht läuft; die ÄrztInnen dagegen gelten schier als «heilig» – obwohl sie, wie Wolfgang zugesteht, oft weniger wissen. Dabei sollte insgesamt «der Kunde zuoberst stehen». Der «Kunde»? Für die Spitex, die ihre PatientInnen in deren vier Wänden aufsucht, mag der Ausdruck stimmen; «wir sind nicht ihre Diener, aber Helfer in der Not.»
«Alle sollen für sich selber entscheiden, was Gesundheit für sie bedeutet, und das tun, was ihnen gut tut.»
– Nadja Bigler.
Elvira und Anna als Pflegende sehen sich häufig in einer schwierigen Rolle: «Was darf ich die PatientInnen fragen?» Immerhin ermuntern sie PatientInnen, Fragen an die ÄrztInnen vorzubereiten. Und sie finden heute – in der Psychiatrie – eher flache Hierarchien und viel interdisziplinären Austausch. Mit wem?
Alles ist Beziehung
«Medizinische Berufe sind kommunikative Berufe», stellt Heinrich klar. Es gilt, alle Beteiligten zusammenzuführen; das heisst für den Landarzt etwa, die Angehörigen, aber auch Pflegende, SozialarbeiterInnen oder selbst demente PatientInnen dabei zu haben, sich «anderthalb Stunden Zeit dafür zu nehmen». Ist das möglich? Man soll diese Zeit einfordern! Gemeinsam getroffene Entscheide erleichtern viele Abläufe. Bei jedem Menschen gibt’s übrigens im Umkreis «eine wichtige Figur» – sie muss nicht zur Familie gehören –, die vieles verständlich macht, so Wolfgang.
Angehörige, die Familie einbeziehen: Die Pflegenden sind einverstanden. Freilich gibt es auch Alleinstehende, gerade in der Psychiatrie. Da beobachtet Anna, dass diesen eine Station zum Zuhause werden kann; «sie wollen nicht mehr gehen», draussen ist’s weniger gut. Ja, das Medizinalwesen stiftet Gemeinschaft und bildet soziale Netze, bestätigt Heinrich. Die Behandelnden müssen denn auch lernen, aus Beziehungen wieder herauszutreten. Medizin und Privatleben sollen getrennt bleiben.
Sind PatientInnen «KundInnen»? Was haben wir heute für ein Gesundheitswesen? Ein privilegiertes, bestimmt. «Es ist gut, aber es kostet», hat Heinrich seinen Leuten jeweils in Erinnerung gerufen. Es ist «ein Spiegel unseres Reichtums», meint Wolfgang. Aber: Es wird zuviel getan, unter anderem mit den verschriebenen Medikamenten – «Beim Eintritt in die Residenz haben sie vielleicht zwei Medikamente – später plötzlich 15», rügt Nadja – oder mit unnötigen Operationen. Oft ensteht ein «gesellschaftlicher Druck, mehr zu leisten», auf allen Seiten, findet Anna. Die ÄrztInnen allerdings «hängen», wenn etwas schlimm herauskommt.
Ein riesiger Markt
Wolfgang: «Wer nichts tut für seine Gesundheit, ist heute schon krank.» Alle möglichen Instrumente – wie der Schrittezähler auf dem Handy – sollen uns mahnen; «Eigenverantwortung» wird beschworen. Selbst die Schönheit ist zu einem Zweig der Medizin geworden. «Sich selber optimieren» zu wollen, wie es angesagt ist, kann positiv sein, wendet Beat ein. Vielleicht helfen auch Gadgets dabei – sofern wir lernen, auf uns selber zu hören.

Das Gesundheitswesen ist ein riesiger Markt. Wolfgang fasst die Tendenz der heutigen Medizin mit zwei Begriffen zusammen: Ökonomisierung und Moralisierung. Geld und – eine Art Religion. «Wer krank wird, hat offenbar gesündigt.» Es gibt andere Modelle. Die Idealisten aus der 80er-Jahre-Bewegung, die Pioniere genossenschaftlicher Praxen, haben eigene Modelle ausprobiert: Viel Zeit einsetzen; keine grossen Löhne; wenig Apparate… Was ist davon in Zeiten der Entsolidarisierung, der neoliberalen Wirtschaft, der Fallpauschalen geblieben?
«Leben ist chaotisch», mahnt Heinrich; es ist gefährlich, es führt zum Tod. Früher haben wir uns mit unserer Lebensangst der Kirche anvertraut. Heute vielleicht den ÄrztInnen – gar der Gesundheitsindustrie?
Was wünschest du dir?
Nadja Bigler: Alle sollen für sich selber entscheiden, was Gesundheit für sie bedeutet, und das tun, was ihnen gut tut. Gesundheit ist ein Geschenk und sollte nicht leichtfertig verbraucht werden. Mein Wunsch an die Welt: Achtet auf die Sprache, die Zeichen des Körpers. Er zeigt euch, was er braucht und wann er genug hat oder nicht mehr kann. Ihr seid alle wertvoll und wunderbar; achtet auf euch.
Anna Essig: Für die Zukunft wünsch’ ich mir, dass psychisch Erkrankte besser in der Gesellschaft akzeptiert sind. Auch wünsch’ ich mir genügend Personal im Gesundheitswesen, um beispielsweise den immer älter werdenden Menschen und deren Bedürfnissen gerecht zu werden, um allgemein besser auf die Wünsche der PatientInnen einzugehen, ihre Ressourcen zu erkennen und sie darin zu bestärken.
Beat Räz: Mehr Präventiv-, weniger Apparate-Medizin! Es könnten Kosten eingespart werden, wenn wir mehr in Prävention investieren würden, bevor eine kostspielige «Reparation» notwendig wird.
Wolfgang Lauterburg: «Lieber reich und gesund als krank und arm»: Eine solidarisch finanzierte Einheitskrankenkasse nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (zum Beispiel Modell SUVA, Lohnprozente), keine Zweiklassenmedizin mehr wie heute schon zum Teil, Zugang zu allen Medikamenten und Spitälern für alle Menschen.
Heinrich Kienholz: (Wünsche richten sich vielleicht im Märchen an gute Wesen, in der alltäglichen Lebenswirklichkeit doch eher an Menschen…) Ich wünsche mir von allen Beteiligten im Gesundheitswesen weniger ökonomisches Denken und Handeln, dafür mehr Bewusstsein für Solidarität und Mitmenschlichkeit als unabdingbare Grundlage pflegerischer und ärztlicher Tätigkeit.