Eine Frau mittleren Alters müht sich gegenüber von mir mit dem Verstauen der beiden riesigen Koffern im zu engen Korridor des Zuges ab. Der Mann – bereits in Ferienstimmung – sitzt relaxed und schaut den erfolglosen Bemühungen seiner Frau gelassen zu. «Ach, lass die Koffern stehen, wo sie sind», meint er. «Solange nicht mehr Leute kommen, geht das so.» Kurz nach Abfahrt des Zuges rollt der Bistro-Wagen an und macht den zuvor geäusserten Rat des Mannes zunichte. Die Frau schiebt erneut Koffern hin und her.
Ein kurzer Blick ins Nebenabteil bestätigt mir, dass alle vier Familienmitglieder glücklich ihren Platz gefunden haben. Ich will mich nun meiner Lektüre widmen. Mich darin zu vertiefen gelingt allerdings nicht: Zu stark ist meine Aufmerksamkeit gefordert durch das Mithören der Familiengespräche nebenan. Ich finde mich gleichsam ungebeten und ungefragt an einem fremden «Familien-Gesprächstisch» wieder – und höre, ich geb‘s zu – fasziniert und zuweilen auch irritiert mit.
Die zukünftige Konfirmandin versucht unermüdlich ihren Eltern eine neue, teure Kamera abzuringen. Sie will diese subito und nicht erst zur «Konf», wie sich dies ihre Eltern vorstellen. Die Mutter weist zaghaft darauf hin, dass irgendwo im Haushalt doch noch eine Kamera rumliege. Damit könne die Tochter schon mal ihre ersten Versuche als Fotografin erproben. Dieser für mich ganz plausibel tönende Vorschlag taxiert die Tochter aufgebracht als „No-Go“. Der Einwurf des Vaters, zuerst einmal einen Fotokurs zu besuchen, wird in derselben Schublade versenkt. Die Haltung der Eltern sorgt für üble Laune bei der Tochter. Trotzdem geht das Ping Pong der Argumente in weitere Spielrunden – ein Resultat ist nicht abzusehen. Zwar entnehme ich dem Tonfall der Eltern sich steigernde Gereiztheit, trotzdem staune ich über deren Ausdauer, das Ping Pong weiterzuführen, obwohl wenig zielführend.
Die Lautsprecherstimme holt mich kurz vor meinem Zielpunkt aus der Anstrengung des Zuhörens. Beim Wegpacken meines mitgeführten Buches fällt mein Blick auf dessen Untertitel. Ich lese: «Über eine Generation und ihre Luxusprobleme…» Beim Verlassen des Zugabteils bemerke ich erstaunt, dass es ruhig geworden ist am «Familientisch» nebenan. Die Familienmitglieder vertiefen sich in ihre IPhones oder Tablets. Niemand nimmt Notiz vom Verschwinden der fremden Mithörerin. So wenig, wie meine Anwesenheit vorher bemerkt worden war.