
Zwei Titel innert weniger Tage: «Romands sind geiziger als Deutschschweizer» und «Romands sind technikaffiner». Fixe Ideen, Vorurteile? Hier stellen sich zweimal zwei Generationen vor, die beide Seiten kennen und sich so zumindest ein eigenes Bild haben machen können.
Aus der Deutschschweiz nach Lausanne
Ursi Kellenberger (61) stammt aus der Gegend von Zürich, ihr Gatte Stephan (61) von Bern; kennengelernt haben sie sich in Chur. Doch ihr Berufsleben hat sie in die USA geführt – zweieinhalb Jahre – und seit 1997 in die Romandie. Sie leben in Renens bei Lausanne; ihre zwei Söhne sind grossteils dort aufgewachsen.
Stephan forscht und lehrt (Pharmazie) an der Uni Lausanne. Als sie die Rückkehr in die Schweiz planten, bot sich ihm dort die interessanteste Stelle. Ursi ihrerseits hegte Sympathien für die Romandie, in der sie schon gewirkt hatte: mit 17 als Au-pair, später als Pflegefachfrau.
Wie’s mit der Sprache ging? Ursi erwarb sich ihr Französisch mehrheitlich in dem Haushaltsjahr. Stephan brachte vom Gymnasium viel Theorie mit, aber wenig Sprechfertigkeit; immerhin wurde ihm Erstere bei zunehmender Praxis noch nützlich, etwa fürs Schreiben – er schreibt heute viel französisch. Bei der Arbeit bewegt er sich zwar in einem internationalen Umfeld, wo Englisch eine wichtige Rolle spielt; doch wo’s immer geht, redet man französisch. Ob man sie beide als Deutschschweizer wahrnimmt? Die Romands erkennen es gleich am Akzent; doch das stellt kein Hindernis dar.

Kleine Kinder zu haben, erweist sich als grosser Vorteil fürs Sprachlernen und die Integration. Ohnehin ist entscheidend, wie man seine Aktivitäten ausrichtet und so Kontakte gewinnt. Natürlich hätten sie keine welschen 50-Jahre-FreundInnen wie die aus der Jugendzeit – aber doch viele treue auch hier. In der Spitex, erzählt Ursi, habe sie viel mit alten Eingewanderten zu tun; wenn die an ihrer Muttersprache festgehalten hätten, seien sie hier oft isoliert.
Interessantes gibt es vom Aufwachsen der Kinder zu berichten: Als der Ältere, der in den USA Englisch gelernt hatte, mit vier Jahren in die Romandie verpflanzt wurde, reagierte er einige Zeit mit Schock, ja Depression. Und der Jüngere redete lange Zeit einfach nicht; doch Sorgen waren nicht angebracht – er ist jetzt französischsprachig und kennt das häusliche Schweizerdeutsch.
Gibt es den Röstigraben? Ja und nein. Es werden Vergleiche angestellt – die durchaus positiv ausfallen können: So rechnen Romands den «Suisses-toto» ihre Seriosität, ihre Genauigkeit hoch an. Die Welschen reisen eher nach Frankreich als in die Deutschschweiz. Viele haben allerdings Verwandte, die frühere Familie oder einen Heimatort eben dort. Sie bekunden Schwierigkeiten mit unserer Sprache, der sie zwar in der Schule begegnen, aber … Eher ältere Romands berichten, wie sie die deutschen Klassiker gelesen hätten, aber nicht sprechen könnten. Kommt uns das nicht vertraut vor?
Die Abstimmungen! Ja, da zeigen sich regelmässig deutliche Unterschiede zwischen den zwei Regionen, namentlich bei Fragen zu Europa. Stephan und Ursi finden ihrerseits, sie ordneten sich problemlos auf der offeneren «welschen Seite» ein. Und Stephan meint: Von Amerika aus, mit 11’000 km Distanz gesehen, erscheine der «Graben» unbedeutend.

Per Telefon erreiche ich Martin Kellenberger (27), den jüngeren Sohn; er ist so nett, mir Schweizerdeutsch anzubieten, obwohl er sich als Romand sieht. Sein bewusstes Leben hat er meist in der Welschschweiz verbracht, Renens, Lausanne, Fachhochschule in Genf. Nur selten kommt er in die Deutschschweiz, zu Familienanlässen oder mal für seine Bank. Einmal hat er sieben Monate in Zürich gearbeitet.
Viele Romands bleiben in ihrer Welt, Unterschiede brauchen sie nicht zu kümmern. Die Schule bietet ihnen zwar bis zu zehn Jahre Deutsch-Unterricht, doch könnten viele danach «keinen Satz formen». Sie seien von dieser komplizierten Sprache «dégoûtés». Ob’s auf der Gegenseite besser aussieht? Fraglich! Jedenfalls bildeten die Sprachen wirklich einen Graben. Als ebenso wichtige Barriere sieht Martin jedoch den Stadt-Land-Gegensatz.
Jugendliche wissen nicht, dass die andere Sprache fürs Berufsleben wichtig wird. Zudem gewinnt das Englische immer mehr Terrain. Geschäfts-Infos aus Zürich erscheinen oft nur auf deutsch und englisch.
Romands essen zu anderen, späteren Zeiten. Sie beziehen ihre Kultur, Fernsehen etwa, auf französisch. Sollten sie mal nach Osten umziehen, dann bestimmt nicht weiter als Fribourg; weiter käme ihnen vor «wie in ein anderes Land». Eigentlich seien die Menschen ja beiderseits sehr ähnlich. Und doch erscheint Martin die Romandie – wie die Suisse alémanique – als «un petit pays à l’intérieur d’un pays». Was dieses allerdings von anderen Ländern unterscheide, seinen Charme ausmache.

Auf der «Grenze»: Die Bieler
Daniel Meier (66), deutschsprachiger Berner, hat sich tief mit dem Französischen eingelassen. Hat eine Frau aus Bordeaux geheiratet, mit ihr und den zwei Töchtern französisch geredet, ist häufig nach Frankreich gereist und hat am Gymnasium Biel die Bilingue-Abteilung geleitet. Sogar im Militär war er mit Romands zusammen.
Biel/Bienne und die Schule dort geben Beispiele fürs Zusammenleben: In Sitzungen etwa redet jedeR, «wie ihm der Schnabel gewachsen ist», heisst: Hochdeutsch oder Französisch. Die Idee der zweisprachigen Ausbildung – seit 1998 – drängte sich hier auf, nach Vorbildern aus Fribourg und Freiburg im Breisgau. Daniels Fach, Mathematik, eignet sich für Unterricht in einer Fremdsprache; Geschichte deutlich weniger, Philosophie kaum. Eine wichtige Rolle spielen die Unterstützung, die SchülerInnen einander geben, sowie das Internet. Heute besuchen mehr Welsche diese Klassen, weil sie an ihre Berufsaussichten denken.

Daniel war mit dem Französisch-Unterricht zu seiner Schulzeit nicht eben glücklich. Der fand frontal statt, und es wurde viel gebüffelt, Vokabular (die Knochen, die Vögel …). Was später allerdings doch einen Nutzen zeigte – gegenüber dem an sich sinnvollen «Learning by doing» von heute.
Wie sieht Daniel Meier die zwei Volksgruppen? «Den Röstigraben gibt es, natürlich – und der soll so sein!» Die Kultur ist selbst in Biel zweigeteilt, jede Seite hört ihre SängerInnen, spielt ihr Theater. Essenskulturen unterscheiden sich: Romands sind immer fürs Apéro zu haben, essen gern in Gesellschaft, auf französische Küche ausgerichtet, bis zu den Froschschenkeln. «Was wäre wohl die Romandie, wenn sie nicht Frankreich hinter sich wüsste?»
Daniel findet die Welschen emotionaler – lässiger, eleganter – an der Kleidung, ja am Gang konnte er sie auf dem Schulhof unterscheiden –, stets zum liebevollen Scherzen bereit; aber auch autoritätsgläubiger: Sie protestierten leicht, doch handelten nicht immer danach. Gewiss bilde der Röstigraben auch Machtverhältnisse ab; die ökonomische Macht liege auf Seiten der Deutschschweiz – aber unser politisches System gleiche dies vernünftig aus.

Juliette Meier (28) nun, die jüngere Tochter, hat bisher hauptsächlich in Biel gelebt; Französisch beherrscht sie, Schweizerdeutsch ebenfalls, wenn auch mit lustigen Zwischenfällen, welche sie kaum zu beseitigen vermöge.
Sie erinnert sich an den Kindergarten, wo sie vom Deutsch zuerst schockiert war; doch dank der Hartnäckigkeit der Lehrerin und einer deutschsprachigen Freundin fand sie hinein. Im Gymnasium dann die Bilingue-Klasse: Juliette findet diese Einrichtung an sich gut, brachte damals fürs Hochdeutsch allerdings wenig Motivation auf; sie lernte, ihr Lernen sparsam zu organisieren.
Später erkannte sie, wie wichtig Deutsch werden kann, und befasste sich in Berlin intensiv damit. Seither konkurrenzieren sich Hochdeutsch und Dialekt in ihr: Sie seien «wie zwei verschiedene Orte in meinem Hirn».
Ihre Ausbildung zur Osteopathin erhielt sie in Fribourg und andern welschen Städten, grossteils auf französisch. Danach arbeitete sie in Bern, wo der Umgang mit PatientInnen manchmal nicht leicht war – glaubten diese eine «Fremdsprachige» vor sich zu haben? Juliette will aber in den zwei Sprachen verkehren. In Biel hat sie Kundschaft von beiden Seiten; Biel gefällt ihr als einzige gemischte Stadt, darum sei sie wieder hier gelandet. (In Fribourg dominiert das Französische. Neuchâtel «liebt Biel nicht».)
Juliette kennt die Deutschschweiz kaum; und doch fühlt sie sich «à moitié étrangère» in der Romandie, die für jenen Landesteil nicht offen sei – nicht mit «méchanceté, mais pas de sympathie». Ja, es wirke dort schier «comme si la Suisse allemande n’existait pas». Romands störten sich daran, dass Deutschschweizer nicht Hochdeutsch reden wollten; sie selber bemühten sich aber wenig, jenes zu lernen und zu brauchen.