Missmutig schiebt er seine Füsse über den Asphalt. Die ausgetretenen Lederschuhe geben bei jedem Schritt ein schlurfendes Geräusch von sich, als wollten sie die Laune ihres Besitzers authentisch wiedergeben. Ihn am Gehen hindernd, baumelt an seinem Arm eine leere Einkaufstasche.
Seine Nachbarin hat ihm zuvor beim Verlassen des Hauses zugewinkt, was er mit einem mürrischen Verziehen des Gesichtes quittiert. Die Enkelkinder der Nachbarin verbringen öfters die Nachmittage bei ihr und stellen dabei die Wohnung auf den Kopf.
Wunsch nach Lärm
Jedes Mal, wenn die Kinder im Haus sind, stolpert der Mann im Treppenhaus über unordentlich herumliegende Kinderschuhe. Die Eigentümer dieser Schuhe schreien währenddessen in der Wohnung lauthals nach ihrer Grossmutter. Nicht der Lärm ist es, der ihn stört. Nein, vielmehr erträgt er die Stille seiner Wohnung schlecht, kaum schliesst er seine Tür hinter sich. Das kann er sich selbst nicht recht erklären, ist doch das Ticken der Standuhr in der Ecke seit Jahren das einzige Geräusch, das er in seinen vier Wänden duldet. Jetzt macht es ihn fast wahnsinnig. Er ertappt sich beim Wunsch, eine chaotische mit Kinderlachen gefüllte Wohnung anzutreffen, wenn er den Schlüssel im Schloss dreht. Er schüttelt ob diesem Gedanken ärgerlich den Kopf.
Gekreische mit Folgen
In Gedanken versunken geht er durch die Bahnhofsunterführung. Er würde seine Einkäufe machen und zurück zu seinem Haus schlurfen. Sein langweiliges Leben würde ihn einholen, sobald er die Tür hinter sich schliesst. Doch plötzlich hält er inne. Lautes, fröhliches Gelächter und aufgeregtes Gekreische beanspruchen seine Aufmerksamkeit. Seine Gedanken geraten wild durcheinander. Irritiert bleibt er stehen und schaut sich um. Eine Schulklasse! Auch das noch!
Plötzlich befindet er sich mitten in einer Schülerschar, die von allen Seiten die Treppe hoch drängelt, sich dabei gegenseitig herumschubsend. Da – genau! Das musste ja so kommen, denkt der Mann. Ein Junge kommt direkt vor seinen Füssen zu Fall, streift dabei unglücklich mit dem Gesicht die Betonwand und beginnt zu weinen.
Jedes Mal, wenn die Kinder im Haus sind, stolpert der Mann im Treppenhaus über unordentlich herumliegende Kinderschuhe.
Der alte Mann schaut sorgenvoll auf das Kind, das aus der Nase blutet. Die SchulkameradInnen scheinen vom Vorfall nichts bemerkt zu haben. Sie stehen längst alle oben auf dem Perron und lärmen weiter, so dass die Lautsprecheransage kaum zu vernehmen ist.
Jetzt kommt Bewegung in den hilflosen, starren Mann. Er beugt sich zum Kind hinunter, kramt aus seiner Einkaufstasche umständlich ein Papiertaschentuch hervor und streckt es dem Jungen entgegen. Das Kind muss rauf zu den andern, geht es ihm durch den Kopf. Der Zug kann jeden Moment einfahren. «Komm» sagt er leise zum Jungen, «ich bringe dich zum Perron zur Lehrerin. Die muss doch bim Tonner irgendwo sein.»
Mit einer ihm selber unvertrauten Behutsamkeit hilft er dem Kind auf die Beine, nimmt es bei der Hand und bringt es hinauf zu seinen KlassenkameradInnen. Nun sieht er auch die Lehrerin. Diese versucht, den Übermut ihrer SchülerInnen in geregelte Bahnen zu leiten – was nicht so recht gelingen will. Beherzt zieht der alte Mann das verletzte Kind zur Lehrerin und erklärt ihr, was geschehen ist. Schon fährt der Zug ein.
Die Lehrerin bedankt sich mehrmals herzlich beim Mann für sein Engagement. Der Junge dreht sich ihm zu, lächelt zaghaft und verschwindet mit den andern Kindern im Zug.
Die wundersame Wandlung
Und schon steht er wieder allein auf dem Perron, der alte Mann. Doch in seinem Innern spürt er eine angenehme Wärme. Er lässt dieser Wärme Raum. Sie führt ihn zurück zu einem Gefühl, das er längst verloren glaubte. Diesem Gefühl will ich Sorge tragen, denkt der Mann und macht sich leichtfüssig auf den Heimweg.
Die Nachbarin traut ihren Ohren und Augen kaum, als der sonst mürrisch auftretende Nachbar mit einem freundlichen «Heit ä gueten Abe» und einem deutlich sichtbaren Lächeln an ihr vorbei schreitet und in seiner Wohnung verschwindet.