Es war einmal ein kleines Nichts. Das war so klein, dass man es fast nicht sah. Zum Glück hatte es eine rote Nase, die blinkte. So konnte man das kleine Nichts erkennen. Sonst hätte man das kleine Nichts glatt für ein Sandkörnchen gehalten. Es war so klein.
Sandkörnchen hatte es da, wo das kleine Nichts lebte, sehr viele. Tausende von Sandkörnchen, aneinandergereiht und dies über eine grosse Fläche. Das Nichts hatte einmal gehört, dass man diesem Ort Wüste sagte. Das kleine Nichts lebte also in der Wüste, inmitten Tausender von Sandkörnchen.
Eines Tages beschloss das kleine Nichts, eine Reise an den Rand der Wüste zu machen. So machte es sich auf und bewegte sich mit dem Wind in Richtung Norden.
Nach vielen kalten Nächten und heissen Tagen sah das kleine Nichts, dass nicht mehr alles so aussah wie bei sich zu Hause. Das kleine Nichts machte eine kleine Pause und schaute sich neugierig um. Da war ein grosser Kaktus. So grosse Kakteen hat es noch nie gesehen. Plötzlich kam ein Mensch auf das kleine Nichts zu. Der Mensch war riesig und hell gekleidet. Er hatte einen Bart, der um seinen Mund herumwuchs. Das kleine Nichts fragte den Mann: «Wer bist du?», der Mann antwortete, «Ich bin der mächtigste Scheich der Region – ich bin wie ein König mit viel Geld.» Das kleine Nichts wusste nicht, was ein König war, noch wusste es, was Geld war. «Du, was ist ein König?» Der Scheich schaute das kleine Nichts erstaunt an und sprach: «Könige sind ganz mächtige Leute, sie regieren über Menschen, sagen ihnen, was sie machen müssen und leben mit sehr viel Luxus.» «Ach so», sprach das kleine Nichts, «Was ist denn Luxus?» Der Scheich war nun ein bisschen verärgert. Solche Fragen waren ihm, dem Scheich, noch nie gestellt worden. «Luxus ist das, was man nicht unbedingt zum Leben braucht.» «Ach, so», sprach das kleine Nichts und verabschiedete sich vom Scheich.
Das kleine Nichts flog mit dem Wind weiter nach Norden. Nach ein paar Stunden sah es eine Stadt vor sich. Eine grosse Mauer war um die Stadt gebaut. Das kleine Nichts ging durch das Tor und staunte. Was da alles geschah. Hier ein Verkäufer der schrie, da ein Händler, der seine Ware anpries. Einer der Händler schrie ganz laut: «Frische Datteln, direkt aus dem Westjordanland, frische Datteln…» Das kleine Nichts fragte den Händler: «Weisst du, was Geld ist?» Der Händler lachte schallend und sprach: «Geld ist das, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.» Das kleine Nichts wurde stutzig: «Ich habe gedacht, Scheiche und Könige regierten die Welt.» Der Händler sagte: «Nein, das Geld regiert die Welt. Mit Geld kann man alles machen.» «Ach so», sprach das kleine Nichts und verabschiedete sich vom Händler.
Fast wäre das kleine Nichts an einer Dattel festgeklebt, aber der warme Südwind blies es in direktem Flug vor das Regierungsgebäude. Hier waren gerade viele durcheinander schreiende Menschen versammelt. Einige begannen sogar, aufeinander einzuschlagen. Das kleine Nichts flüsterte einem Wache stehenden Soldaten ins Ohr: «Warum schreien und streiten die so?» Der Mann kratzte sich am Ohr und sagte: «Das ist Politik, ein Machtkampf! Jeder will die Welt regieren.» Verwirrt dachte das kleine Nichts: So ist das, nicht der Scheich, nicht das Geld, die Macht der Politik regiert die Welt…

Und schon wieder wurde es weggetragen, direkt auf den grossen Platz vor der Kathedrale. Es setzte sich müde auf den Mantel eines Bettlers vor dem grossen Tor, durch das die Menschenmenge ins hell beleuchtete Innere strömte. «Was wollen denn die vielen Menschen hier?» fragte es zaghaft. Der Bettler beugte sich zum kleinen Nichts und zeigte auf die Pracht im Kirchenraum, die Schönheit der aufgestellten Krippe, die Kerzen und Lichter – und die reich gekleideten Priester, und antwortete: «Die Priester glauben, nur von hier aus werde die Welt regiert. Mit kirchlichem Prunk und salbungsvollen Worten. Die Menschen jedoch suchen hier Güte, Erbarmen, Liebe – einen rettenden Gott der Wahrheit und des Friedens.»
Obwohl es nur ein kleines Nichts war, wollte es endlich den wahren Herrscher der Welt kennen lernen. Es schüttelte sich und fragte sich plötzlich, ob sich wohl die vielen Menschen, die es angetroffen hatte und die glaubten, sie regierten die Welt, sich nicht angesichts dieser Macht des Himmels plötzlich auch klein fühlten – ob nicht jeder einmal im Leben realisieren müsse, dass es Grenzen seiner Macht gebe. Dass jeder im Grunde auch nur ein kleines Nichts sei.
Sylvia Müller (82) und Elias Rüegsegger (19) haben diese Geschichte gemeinsam geschrieben. Die beiden begannen je mit einer Erzählung und tauschten diese dann aus, um sie fertig zu dichten. So sind zwei halb-halb Geschichten entstanden. Ein Stilbruch lässt sich aber nicht finden – oder doch? Den ersten Teil hat Sylvia geschrieben, den zweiten Elias. Die erste Geschichte zu Heilig Abend von den Beiden finden Sie hier.
Die beiden Weihnachtsgeschichten gefallen mir. Ich finde die erste ein bisschen eindringlicher, weil sie so menschlich und so lebensnah ist. Die werde ich heute Abend meiner Frau vorlesen, wenn wir nach dem Weihnachtsstress allein vor dem Tannenbaum sitzen.
Mir gefällt besonders der zweite Teil der Geschichte, überhaupt finde ich es toll, dass ihr diese beiden Geschichten zusammen geschrieben habt. Kommen in meine recht umfangreiche Weihnachtsbibliothek! Merci!