«Hiermit bestätige ich, dass ich mich während des Besuchs im Amt für die ganze Wahrheit verantwortlich fühle.» Der handschriftlich unterschriebene Besucherausweis macht deutlich, dass wir uns an einem ganz speziellen Ort befinden: im «Amt für die ganze Wahrheit», der neuen Ausstellung im Stapferhaus in Lenzburg. Das «Amt für die ganze Wahrheit» besteht aus acht Abteilungen, die gnadenlos aufzeigen, wie wir täglich mit Lügen konfrontiert sind und wie schwierig es ist, Lüge und Wahrheit zu erkennen. In der Ausstellung wird man selber immer wieder damit konfrontiert, wie verlockend doch so eine Lüge ist, weil lügen das Leben oft einfacher macht. Für Eve steht fest: «Ich will nicht lügen und auch nicht angelogen werden.»
Derart festlegen will sich Petra nicht. Sie möchte zuerst wissen, wann lügen überhaupt beginnt und stellt sich die Frage: «Ist etwas weglassen und nicht alles sagen auch schon lügen?» So einfach mit Ja oder Nein beantworten mag das Jürgen nicht. Mit 65 ist er der Älteste in der UND-Gruppe. Für ihn gibt es Bereiche, da geht lügen gar nicht. Als Journalist fordert er in der Berichterstattung die absolute Wahrheit ein. Im Privatleben hingegen lässt er eine Notlüge auch mal durch. Notlügen gehören auch ins Repertoire von Eve. So habe sie als Lagerleiterin ihre Jungschi-Mädchen auch schon angelogen und sei dann nicht wie versprochen auch ins Bett, sondern noch an eine Party gegangen.
Beim Christkind ist eine Lüge angebracht
Vielleicht kann ja die «Fachabteilung für Lügenerziehung und angewandte Pinocchioforschung» weiterhelfen. Gerade in der Kindererziehung lügen die Eltern oft wie gedruckt. Wenn du lügst, wächst dir die Nase, oder wenn du nicht aufisst, wird morgen das Wetter schlecht. Lügen, die zur Tagesordnung gehören und wohl niemandem Gewissensbisse bereiten. Und wie ist es mit dem Christkind? «Das ist doch die grösste Lüge, die wir jedes Jahr neu auftischen», provoziert Jürgen. Da ist eine Lüge nötig, sonst geht ein gewisser Zauber verloren, protestiert Eve. Mit dem Christkind zu drohen – wenn du nicht brav bist, dann kommt es nicht zu dir – ist für sie aber ein absolutes No-Go. Die Christkind-Lüge als Erziehungsmaßnahme kommt für Petra nicht in Frage. «Samichlaus, Christkind und Osterhase sind aber schöne Traditionen», sagt sie und fügt an: «Lügen, die niemandem schaden, sind ok.» Aber weiter im Bürolabyrinth im «Amt für die ganze Wahrheit». Wir stellen uns die Frage: Haben wir bis hierher immer die Wahrheit gesagt? Der Lügendetektor im «Labor für Lügenerkennung» könnte Klarheit schaffen und uns allenfalls überführen. Zu unserem Glück ist er im Moment defekt…
Die Lügerei auf den Wahlplakaten
Wie ist es eigentlich mit den PolitikerInnen, denen die meisten Menschen nicht trauen, wie es die Ausstellung eindrücklich dokumentiert. Nachweislich und leider kein Fake… Jürgen ist überzeugt, dass PolitikerInnen oft lügen, um ihre Interessen durchzusetzen. «Ich möchte nicht wissen, wie viele PolitikerInnen nicht mehr gewählt würden, wenn sie nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen würden.» Petra findet das tragisch und fürchtet gar um die Demokratie. Auch Eve glaubt längst nicht mehr alles, was sie hört, sieht und liest. «Die Lügerei beginnt ja schon auf den Wahlplakaten», stellt sie resigniert fest. Sie plädiert an die Jugendlichen, sich in Gesprächen und mit Recherchen selber zu informieren, um nicht auf Lügen hereinzufallen. Petra hat beruflich einen tiefen Einblick in die Medienlandschaft. Sie ist desillusioniert: «Seit ich bei den Medien arbeite, sehe ich, was alles dazu gedichtet oder anders dargestellt wird.» Bestätigt wird ihre Meinung in der «Medienstelle für alte und neue Fake-News». Die in der Ausstellung dokumentierte Tatsache, dass schon früher in den Medien schamlos gelogen wurde, ist für sie nur ein schwacher Trost. Beeindruckt sind wir von der Visualisierung, die zeigt, wie rasend schnell Lügen im Netz auf der ganzen Welt verbreitet werden. Dokumente von falschen Radio- und Fernsehbeiträgen, welche die Weltpolitik gravierend veränderten, lösen bei uns ein mulmiges Gefühl aus. Puh, diese Abteilung ist wahrlich starker Tobak!
Lügen und schwindeln ist nicht dasselbe
Wir sind nun schon drei Stunden den Lügen und der Wahrheitsfindung auf der Spur. Fragen und Diskussionsstoff gehen dabei nicht aus. Im Gegenteil. Ist eigentlich lügen und schwindeln dasselbe? Petra legt sich fest: «Lügen hat für mich einen negativen Touch, schwindeln hingegen ist eine abgeschwächte Lüge und eine Notlüge ist schon fast mit einem Augenzwinkern verbunden.» «Aber Inhalt und Auswirkungen können doch dieselben sein», wendet Jürgen ein. Er gibt dann aber zu, dass auch bei ihm beim Schwindeln mitschwingt, dass alles ja nicht so schlimm ist. «Wer lügt, wird als Lügner abgestempelt, schwindeln hingegen hat keine Konsequenzen und ist nicht schlimm», ist Eve überzeugt und lenkt die Gedanken in eine andere Richtung.
Ist es eigentlich egal, wen man anlügt? Wen würdet ihr nie anlügen? «Ich bin mir nicht so sicher, ob es Personen gibt, die ich nicht anlügen würde, wenn es die Situation verlangt», gibt Petra offen zu. «Die engsten Personen sollte man nicht anlügen», legt sich Eve fest, relativiert dann aber sofort mit einem Augenzwinkern und meint, dass eine Notlüge auch da möglich sein muss. «Ich würde die Polizei und das Steueramt nie anlügen», schmunzelt Jürgen und entzieht sich damit einer konkreten Aussage.
«Ich hatte lange ein schlechtes Gewissen»
Nach fast vier Stunden im «Amt für die ganze Wahrheit» wagen wir uns, die alles entscheidende Frage doch noch zu stellen: Habt ihr schon gelogen und bereut es heute? «Ich habe meine Eltern angelogen, weil ich bei meinem Freund schlafen wollte», gibt Eve zu. Noch lange habe sie ein schlechtes Gewissen geplagt. Petra ist sich sicher, dass sie es schon getan hat, kann sich aber nicht mehr explizit erinnern. «Ich habe vor 30 Jahren einmal etwas geschrieben, das nicht ganz der Wahrheit entsprach, und bereue es heute noch. Immerhin, ich habe daraus gelernt und es nicht wieder gemacht», beichtet Jürgen am Ende der Ausstellung.
Lügen erleichtert das Miteinander
Fazit: Die Ausstellung «Fake. Die ganze Wahrheit» konfrontiert einen gnadenlos und fordert heraus. Sie zeigt auf, wie schmal der Grat zwischen Fake-News und Wahrheit ist. Sie zeigt auch, dass der Slogan der Ausstellung treffender nicht sein könnte: «Die Wahrheit braucht dich». In erster Linie aber macht sie grossen Spass und provoziert den Dialog, auch unter den Generationen, wie Eve, Petra und Jürgen erlebt haben. Die Frage, ob man lügen darf oder man immer die Wahrheit wissen möchte, muss jeder für sich beantworten. Vielleicht hilft dabei die Psychologin Susanne Niehaus. Im Zusammenhang mit der Ausstellung «Fake» im Stapferhaus sagte sie kürzlich im Migros Magazin: «Die Lüge ist Teil der Sozialkompetenz und erleichtert das soziale Miteinander. Würde man sich immer offen sagen, was man denkt, wäre das Zusammenleben unerträglich, es käme dauernd zu Kränkungen.»
Das meint UND
Petra Eichenberger (48) ist Assistentin der Geschäftsleitung sowie Personalverantwortliche bei Radio Argovia, Radio 24 und Virgin Radio Switzerland.
«Ich fand die Ausstellung sehr interessant, da viele verschiedene Aspekte aufgezeigt werden. Ich wurde mit Lügen von Kindern, aber auch mit Lügen von Erwachsenen konfrontiert und konnte sehen, wie sie sich mit dem Alter verändern. Zudem ist die Fragestellung interessant, ob es einen Unterschied gibt zwischen schummeln und lügen. – Die Ausstellung regt auf jeden Fall zum Nachdenken an!
Jürgen Sahli (65) ist pensionierter Chefredaktor und Programmleiter sowie Stv. Geschäftsführer von Radio Argovia.
«Auf mich machte die Ausstellung einen sehr professionellen Eindruck. Ausserdem ist sie sehr informativ und fordert die eigene Person sehr, da man ständig mit der Thematik Lüge oder Wahrheit konfrontiert ist. Die Einleitung zur Ausstellung fand ich ebenfalls sehr gelungen.»
Eve Kaiser (18) besucht zurzeit die Kantonsschule in Baden. Später möchte sie ein Studium in Richtung Kommunikation und Medien antreten.
«Mir hat die Ausstellung gut gefallen, da sie aufzeigt, dass es sehr schwer ist, eine Grenze zu ziehen, ob und in welchen Fällen das Lügen erlaubt ist. Diese Grauzonen sind sehr interessant und sorgen noch Tage später für Gesprächsstoff.»
«Lügen sind nicht immer schlecht»
Sibylle Lichtensteiger (50) ist die Gesamtleiterin sowie künstlerische Leiterin des Stapferhauses in Lenzburg.
Immer wieder gelingt es dem Stapferhaus, Ausstellungen zu machen, die im ganzen Land für Gesprächsstoff sorgen. Wo entstehen die Ideen?
Sibylle Lichtensteiner: Das ist ganz unterschiedlich: Einmal auf einer langen Wanderung, ein anderes Mal bei einem zufälligen Geistesblitz. Bei mir persönlich entstehen sie eher am Abend spät oder gar in der Nacht. Manchmal entstehen die Ideen gemeinsam im Team, manchmal bei jemandem im stillen Kämmerlein. Jedoch wissen wir in den seltensten Fällen, was nun an welchem Ort entstanden ist.
Wie lange dauert es von der Idee bis zur Ausstellungs-Eröffnung?
Eineinhalb Jahre: In der Regel etwa dreiviertel Jahre Recherche und Konzeption sowie dreiviertel Jahre Umsetzung
Wie viele Leute arbeiten an einem solchen Projekt mit?
Das ist schwierig zu sagen. Wir arbeiten mit sehr vielen externen Firmen zusammen, bei denen wiederum unterschiedliche MitarbeiterInnen involviert sind. In unserem Konzeptions- und Umsetzungsteam arbeiten wir in der Regel mit vier Personen beziehungsweise rund 300 Stellenprozenten. Wobei wir gegen Ende, wenn es dann zur Umsetzung kommt, meist noch Verstärkung ins Team holen müssen.
Welches war bis heute die erfolgreichste Ausstellung?
Misst man die erfolgreichste Ausstellung mit den BesucherInnen pro Tag, so war es die Ausstellung «HEIMAT». Die momentane Ausstellung «FAKE» scheint ihr grad den Rang abzulaufen, wenn es so weiter geht.
Was zeichnet eine erfolgreiche Ausstellung aus?
Eine erfolgreiche Ausstellung zeichnet sich durch gutes Feedback aus verschiedensten Kreisen aus, also von Jung und Alt, Experten und Laien – und natürlich von guten Besucher-Quoten.
«Fake» ist die erste Ausstellung im neuen Stapferhaus. Wie bewährt sich das Haus?
Das Stapferhaus ist ein absolutes Traumhaus. Alles stimmt. Nur an der Akustik müssen wir hier und dort noch etwas arbeiten – das hängt aber auch mit den ausserordentlich vielen BesucherInnen zusammen.
Mit welchem Gefühl und welchen Eindrücken sollen die BesucherInnen die Ausstellung verlassen?
Es ist leider nicht einfach mit der Wahrheit und der Lüge – aber jede und jeder sollte sich aufrichtig um die Wahrheit bemühen, dort wo es eben wichtig ist und Sinn macht. Aus diesem Grund auch der Slogan: «Die Wahrheit braucht Dich!». Nach der Ausstellung sollten die BesucherInnen diese Aufgabe etwas beschwingter anpacken. Die Auseinandersetzung ist nicht nur eine Bürde, sondern durchaus auch sehr spannend!
Wie haben Sie es eigentlich mit dem Lügen? Wann ist lügen erlaubt, wann nicht?
Oh – das ist gerade die schwierige Frage beim Ganzen. Lügen sind nicht immer schlecht. Das zeigt die Ausstellung. In vielen Fällen ist die Lüge aber destruktiv, weil sie das Vertrauen untergräbt. Ohne Vertrauen wird das Zusammenleben auf der persönlichen, wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene schwierig.
Zur Ausstellung
Für die Ausstellung «FAKE» verwandelt sich das Stapferhaus in Lenzburg im Kanton Aargau in das «Amt für die ganze Wahrheit». Man kann den Lügen einmal richtig auf den Zahn und der Wahrheit den Puls fühlen. Die BesucherInnen können selbst entscheiden und diskutieren, welche Lügen wichtig, welche nötig und welche sogar tödlich sind. Die Ausstellung läuft bis am 24. November 2019 in Deutsch, Französisch und Englisch. Das Stapferhaus befindet sich direkt neben dem Bahnhof Lenzburg. www.stapferhaus.ch