UND-Autorin Karin Mulder hat für den Schwerpunkt «Herbstblätter» die besten Gedichte zusammengestellt.
Welche Gedanken haben Sie zum Thema Herbst? Schreiben Sie in die Kommentarspalte am Ende des Artikels.
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke

Dies ist ein Herbsttag,
wie ich keinen sah!
Die Luft ist still,
als atmete man kaum.
Und dennoch fallen
raschelnd fern und nah
Die schönsten Früchte ab
von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
denn heute löst sich
von den Zweigen nur
was vor dem milden Strahl
der Sonne fällt.
Christian Friedrich Hebbel

Oktoberlied
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
vergolden, ja vergolden!
Und geht es draussen noch so toll,
unchristlich oder christlich,
ist doch die Welt, die schöne Welt,
so gänzlich unverwüstlich!
Und wimmert auch einmal das Herz-
stoss an und lass es klingen!
Wir wissens’s doch, ein rechtes Herz
ist gar nicht umzubringen.
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
vergolden, Ja vergolden!
Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
es steht die Welt in Veilchen.
Die blauen Tage brechen an,
und ehe sie verfliessen,
wir wollen sie, mein wackrer Freund,
geniessen, ja geniessen!
Theodor Storm

Wer die Zeit verklagen will, dass so zeitig sie verraucht,
der verklage sich nur selbst, dass er sie nicht zeitig braucht.
Friedrich von Logau

Je, ‘s isch scho Herbscht. Es foht a z’näble.
De gschpyrsch’s im Nacke-n-und im Kryz.
Die letschte Blueme tien verräble,
es tschuuderet di alli Pfitz.
Der Wind tuet bälfere und rure,
macht Jäglis mit em resche Laub.
Jä lueg, so gehn halt d’Zyte dure,
‘s rymt so natyrlig : Laub und Staub.
Fritz Liebrich (Basler Mundart)

Der September
Das ist ein Abschied mit Standarten
aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
Goldlack und Astern flaggt der Garten,
und tausend Königskerzen glühn.
Das ist ein Abschied mit Posaunen,
mit Erntedank und Bauernball.
Kuhglockenläutend ziehn die braunen
Und bunten Herden in den Stall.
Das ist ein Abschied mit Gerüchen
aus einer fast vergessenen Welt.
Mus und Gelee kocht in den Küchen.
Kartoffelfeuer qualmt im Feld.
Das ist ein Abschied mit Getümmel,
mit Huhn am Spiess und Bier im Krug.
Luftschaukeln möchten in den Himmel.
Doch sind sie wohl nicht fromm genug.
Die Stare gehen auf die Reise.
Altweibersommer weht im Wind.
Das ist ein Abschied laut und leise.
Die Karussells drehn sich im Kreise.
Und was vorüber schien, beginnt.
Erich Kästner, aus «Die dreizehn Monate»

Der Herbst
Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,
Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,
Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,
Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.
Das Erdenrund ist so geschmückt, und selten lärmet
Der Schall durchs offne Feld, die Sonne wärmet
Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen
Als eine Aussicht weit, die Lüfte wehen
Die Zweig‘ und Äste durch mit frohem Rauschen,
Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,
Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet
Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet.
Friedrich Hölderlin

Fülle
Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzu reich beschwerte,
Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde.
Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube!
Die saftge Pfirsche winkt dem durstgen Munde!
Die trunknen Wespen summen in die Runde:
„Genug ist nicht genug!“ um eine Traube.
Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!
Conrad Ferdinand Meyer

Novembertag
Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen;
ohne Not geht niemand aus;
alles fällt in Sinnen.
Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Gebärde.
Heimlich, wie auf Meeresgrund,
träumen Mensch und Erde.
Christian Morgenstern
