Hallo – kannst du dich kurz vorstellen?
Bernina 215: Mein Name ist Bernina, Bernina 215. Ich bin talentiert, ich bin ein halbautomatischer Einfädler. Darauf bin ich stolz. Per Knopfdruck kann ausgewählt werden, welche Stiche ich nähen soll. Ich bin nicht kompliziert und leicht zu bedienen – auch ideal für solche, die nicht viel Ahnung haben von uns. Trotzdem werde ich nicht so häufig gebraucht, und das trifft mich manchmal. Ich wurde einer Person mit Namen Manuela zum 21. Geburtstag geschenkt. Leider ist sie im Gegensatz zu ihrem Mami keine grosse Näherin. Deshalb ruhe ich seit meinem Einzug mehrheitlich in meinem Schlafsack und warte darauf, endlich mein volles Talent zeigen zu können. In meinem jetzigen Zuhause höre ich, dass andere Nähmaschinen aber im Gebrauch sind.
Bernina 215, weisst du etwas darüber, wie die Nähmaschinen entstanden sind, wie sie funktionierten, wie sie sich entwickelt haben?
Tatsächlich habe ich in meiner Kindheit einige interessante Geschichten unseres Stammbaums erfahren: Ursprünglich konnten die Menschen nur mit einer Nadel in den Händen nähen – eine geübte Person nähte 50 Stiche pro Minute. Noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg war es üblich, Kleider selbst herzustellen. Der Beruf des Schneiders genoss einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft der reichen Damen.
Bereits um 1800 wurden erste Versuche unternommen, die mühsame Handarbeit durch eine Maschine zu ersetzen. Bekannt bei uns war die Marke Singer aus Amerika. Meine Ururururgrossmutter erblickte das Licht der Welt 1893 in Steckborn im Thurgau und war so die erste der Familie Gegauf. Später wurden wir dann auf den Namen BERNINA getauft. Als erste Hohlsaum-Nähmaschine konnte sie 100 Stiche pro Minute nähen.
«Es klingt manchmal so, als wären sie nicht mehr Nähmaschinen, sondern richtige Computer.»
Bernina 215
Doch mit meinen Urururgrosseltern war es noch sehr anstrengend zu arbeiten und erforderte viel Kraft. Sie hatten noch nicht so viele Funktionen und bewältigten zuerst nur «einfache» Nähstiche. Auch musste man mit den Füssen fest treten, damit sie die Energie hatten, überhaupt etwas zu machen. Seit bald 40 Jahren ist es nun auch möglich, Stichmuster zu speichern, und mit Knöpfen kann die Stichart ausgewählt werden.
Sag mal, Bernina, welche Gedanken machst du dir zum Thema Zukunft?
Es gab eine Zeit, da kostete ein Familienmitglied von uns so viel wie heute ein teures Auto. Man liess sich ablichten mit ihr, um seinen Status zu zeigen. Wir waren sozusagen die Rolex oder der Ferrari von früher. Wohingegen heute für jedes Budget es möglich ist, eine Nähmaschine zu kaufen. Werden wir ein Wegwerfprodukt? Und zudem: Meine Nachfolgerinnen sind ja echte Alleskönner. Es klingt manchmal so, als wären sie nicht mehr Nähmaschinen, sondern richtige Computer. Ich habe mal gehört, dass ein Laser entwickelt wurde, der ohne die Verwendung von Nadel und Faden Hemden herstellen konnte. Solche Vorstellungen machen mir Angst, dass es uns «Normale» vielleicht in Zukunft gar nicht mehr braucht …
Oh nein! Deine Familie Bernina feiert doch gute Erfolge mit euch und konnte ihren Umsatz sogar steigern. Macht dir das ein wenig Hoffnung?
Das freut mich! Natürlich hoffe ich sehr, dass es uns in den privaten Haushalten noch lange brauchen wird. Wir sind eine wichtige Spielfigur in der Wegwerfgesellschaft. Kleider müssen nicht entsorgt werden, sie werden durch meinen Einsatz einfach geflickt. Und im Gegensatz zu früher, als aus «Notwendigkeit» heraus genäht wurde, sind wir heute auch im Einsatz zur Freude. Manche Menschen nähen als Hobby: Sie machen Patchwork, gestalten individuelle Kleider … Die letzten paar Jahre waren die Menschen gezwungen, zuhause zu bleiben und haben sich vermehrt kreativ ausgelebt, auch mit Nähen an der Nähmaschine. Stricken erobert die sozialen Medien, es gibt Strick-InfluencerInnen: Ich wünschte mir, dass auch Nähen wieder trendig wird. Und wer weiss? Vielleicht sind wir bald die nächsten Stars auf Tiktok, Instagram und Co.
«Dass in armen Ländern mit Maschinen wie die unseren Menschen ausgenutzt werden.»
Bernina 215
Was ist deine grösste Sorge, wenn du an die Zukunft denkst?
Dass in armen Ländern mit Maschinen wie die unseren Menschen ausgenutzt werden. Sie sitzen zu Hunderten in einem Saal und nähen für Hungerlöhne Kleider, die sie nie selbst anziehen werden. Und dadurch, dass wir so gut und schnell geworden sind, kann schnell viel produziert werden. So viel, dass die Leute diese gar nicht verwenden können. Und die Vorstellung von der Menge an entsorgten Kleidern – das entlockt mir manchen Zukunftsseufzer.
«Und die Vorstellung von der Menge an entsorgten Kleidern – das entlockt mir manchen Zukunftsseufzer.»
Bernina 215
Was wünscht du dir für deine NachfolgerInnen, wie stellst du dir das Leben in 20 Jahren vor?
Ich höre manchmal von Energienot; Wasser und Strom werden knapp. Auch wir, die neueren Modelle, brauchen den Strom zum Atmen, unsere industriellen Verwandten benötigen sogar noch mehr, und so trägt auch unsere Familie unseren Teil bei zu dieser Not. Deshalb: Vielleicht können wir darauf zukünftig verzichten und uns zum Beispiel von der Sonne ernähren.