Von der Klinik zur Praxis: Das ist die Arztkarriere des Urs Lenggenhager

Urs Lenggenhager hantierte mit Nadeln. Als Chirurg oder als Ohrakupunkturarzt. Schon als Bub hatte er als begeisterter Meccano-Konstrukteur seine «Grüblifinger» trainiert. Er hätte am liebsten einen handwerklichen Beruf ergriffen, trat jedoch in die Fussstapfen seines Vaters, der Chefchirurg am Inselspital war.

Urs Lenggenhager steht für alternative Medizin ein. – Bild: Marielle Schlunegger

Urs Lenggenhager (76) erzählt von einem Patienten, der mit blutüberströmter Hand in seine Praxis eintrat. Ein Dachdecker, unter dem das Baugerüst eingestürzt war. Er konnte sich gerade noch am Abflussrohr der Dachrinne festhalten und sauste daran hinunter. An den Halterungen riss er sich die Hand auf. Hier war «Urgence différée» gefragt, eine Methode, mit der Lenggenhager solche Notfälle anging. Das hiess: Blutungen stoppen, Einlegen der Hand in eine Kochsalzlösung und durchatmen. Mit dick eingebundener Hand verliess der Patient die Praxis. Operiert wurde erst nach einigen Tagen, als ersichtlich war, welche Gewebsteile sich regenerierten.

Lenggenhager arbeitete damals in einem Ärztehaus in Wohlen im Kanton Aargau, und operierte in seinem eigenen Operationssaal. Er konnte dort die in Frankreich gelernte Handchirurgie oft anwenden, denn in der Nähe waren einige Schwermetallbetriebe angesiedelt. Pro Woche behandelte er drei bis vier Notfälle.

Daneben empfing er PatientInnen mit Beschwerden wie Migräne, undefinierbaren Schmerzen, Angstzuständen, Allergien, Stoffwechsel-erkrankungen oder Nikotinsucht. Sein Heilmittel: Ohrakupunktur (siehe Kasten).

Interessen vereint

Nach seiner Schulzeit in Bern hätte Lenggenhager am liebsten eine Lehre angetreten. Etwas in Richtung Elektro, denn er hatte «Grüblifinger». Anderseits hatte er seinen Grosseltern bereits als 6-Jähriger erklärt, dass er Ingenieur oder Kinderarzt werden wolle. Später, als er dann beide Interessengebiete in seinem Beruf vereinen konnte, war er sehr froh, dass sein Vater ihn sachte dazu gedrängt hatte, das Gymnasium zu besuchen. Die Matura schaffte er trotz eines Dreiers in Mathematik mit Leichtigkeit. Wegen seines «Helfersyndroms» studierte er Medizin.

Mitten im Studium musste der Medizinstudent in die Rekrutenschule. Als Sanitäter war er in voller Montur unterwegs. Im Sommer, bei grösster Hitze, mit einer aufklappbaren Ledertasche vor dem Bauch. Das sogenannte «Nabelbüffet» war gefüllt mit Medikamenten und Verbandzeug. Und auf dem Rücken trug er jeweils eine zugeklappte Tragbahre. Sie wog 9,8 Kilogramm. Hinzu kam die mit zwei Litern Wasser gefüllte Gamelle. Die Bevölkerung wollte diese Quälerei eines Tages nicht mehr mit ansehen und intervenierte. Ausschlaggebend war wohl auch, dass ein Rekrut seine Tragbahre über das Brückengeländer in den Rhein geworfen hatte.  Zur Halbzeit seiner RS wurden den Sanitätern Fahrzeuge zur Verfügung gestellt.

Vom Tarnanzug zurück an den Schreibtisch: Lernen für die zweite Zwischenprüfung war angesagt. Er bestand sie, trotz Prüflingsnummer 13, jedoch mit nur zwei Punkten über dem Minimum. Auf die Theorie folgte die Praxis: Gespräche mit PatientInnen in der Klinik, Vorlesungen über Krankheiten und verschiedene Praktika. Für das erste klinische Semester zog es ihn an den Genfersee nach Lausanne.

Ein halbes Jahr vor dem Staatsexamen hatte er bereits eine Stelle als «UHU», Unterhund, in Vevey angetreten. Als Unterhund bezeichneten MitarbeiterInnen im Krankenhaus die Unterassistenten. Personalmangel an der Uniklinik, an der sein Vater Chef der Chirurgie war, führte Lenggenhager zurück in die Deutschschweiz. Mehr als die Hälfte des Teams war zum Militärdienst aufgeboten. Er kehrte also nach Bern zurück. Jeden Morgen vor den Vorlesungen begab er sich auf die Abteilung, um nach seinen PatientInnen zu schauen, besuchte im weissen Kittel die Vorlesung bis um elf Uhr und kehrte sofort zurück auf die Abteilung. Lernen musste er auch noch, jedoch nicht in Chirurgie, denn auf diesem Gebiet hatte er bereits reichlich Erfahrung gesammelt.

Prägende Erlebnisse

Lenggenhager blieb nach seinem Examen dem Inselspital treu, unter anderem in der Neurochirurgie und auf der Anästhesie. Eine Zeit mit prägenden Erlebnissen: Ein Mann hatte über Jahre an chronischen Bauchschmerzen gelitten, war immer wieder untersucht und «behandelt» worden, aber eine Besserung trat nicht ein. Damals kannte die Medizin nur das Röntgen oder die Computertomografie. Weichteile konnten nicht bildlich dargestellt werden. Schlussendlich schickten Ärzte den Patienten auf die Chirurgie. In einem stundenlangen chirurgischen Eingriff untersuchten Ärzte seinen Bauch. Als Assistent musste Lenggenhager die ganze Zeit über die Sperrhaken halten, mit denen die Bauchdecke auseinandergezogen wurde.

Ein anderer Patient hatte sich über Nacht am ganzen Körper wundgekratzt. Ursache war eine akute Medikamentenunverträglichkeit.Lenggenhager sah sich nach einer alternativen Diagnosemöglichkeit um und entdeckte die Ohrakupunktur. Er besuchte dazu Kurse bei Dr. Paul Nogier in Lyon.

Als sein Vater pensioniert wurde, wechselte er nach Burgdorf, wo er bis zum Ablauf der vorgeschriebenen Zeit als Assistenzarzt blieb. Bereits dort begann er die Ohrakupunktur anzuwenden.

Der ganze Körper ist auf der Ohrmuschel aufgezeichnet wie auf einer Karte. – Bild: Wikimedia

Unterdessen hatte Lenggenhager eine Familie gegründet. Er wurde als Oberarzt ans Spital in Brig berufen. Dort trug er viel Verantwortung, aber auch die Ohrakupunktur war ein Bestandteil des Anstellungs-Vertrags. Drei bis vier PatientInnen pro Tag wurden ihm offiziell zugestanden. Aber er merkte, dass er kein «Spitaltyp» war. In Wohlen war eine Praxis in einem Ärztehaus für einen chirurgisch interessierten Arzt ausgeschrieben. Lenggenhager eröffnete seine erste Praxis. Die Behandlung des Dachdeckers, von dem zu Anfang die Rede war, dauerte drei Monate. Danach war die Hand vollkommen abgeheilt und voll funktionsfähig. «Urgence différée» hatte sich bewährt.

Lenggenhager war so erfolgreich, dass seine Arbeitstage meistens von morgens um halb sieben bis abends um halb acht dauerten, unterbrochen von einer halbstündigen Mittagspause. Dicker Nebel im Winterhalbjahr, ein undichtes Dach und die Bedürfnisse der Familie drängten ihn zu einer Veränderung. «Du Papi, warum sehe ich dich erst, wenn ich im Pyjama bin?» Diese Frage seiner kleinen Tochter brachte das Fass zum Überlaufen.

So zog die Familie im Jahr 1978 nach Bern, wo Lenggenhager in seiner Praxis am Bubenbergplatz bis zu seiner Pensionierung vor elf Jahren praktizierte, jedoch ohne Operationstisch. Er war dorthin zurückgekehrt, wo er aufgewachsen war: An die Länggasse.

Urs Lenggenhager, was genau ist Ohrakupunktur?

Urs Lenggenhager: Der ganze Körper ist auf der Ohrmuschel aufgezeichnet wie auf einer Karte. Die Punkte, die einer kranken Körperstelle oder Disfunktion entsprechen, reagieren. Dort verändert sich der Puls. Die Nadelstiche am Ohr sind wenig schmerzhaft im Vergleich zu den chinesischen Akupunkturpunkten, wo die Nadeln drei bis vier Zentimeter tief ins Fleisch gestochen werden, oft an sehr empfindlichen Stellen. Am Ohr stechen wir maximal einen Millimeter hinein. Manche spüren kaum etwas.

Am Ohr stechen wir maximal einen Millimeter hinein. – Bild: Wikimedia

Wenn jemand besonders empfindlich reagierte, nahm ich jeweils einen Laser, 300 Mal schwächer als eine Taschenlampe. Dr. Bahr aus München hat dieses Verfahren verfeinert. Mit Techniken, die er weiterentwickelt hat, können wir heute auch Vitaminmangel und Medikamenten(un)verträglichkeiten austesten.

Können so auch psychische Probleme behandelt werden?

Ja, unter anderem Angst, Depressionen und Stressreaktionen. Auch da kennen wir Punkte auf der Ohrmuschel. Allerdings ist auch die Methode von Dr. Bahr nur eine hoch entwickelte Symptombehandlung. Ich führte möglichst immer Gespräche mit den PatientInnen über die Bedeutung ihrer Beschwerden. Nach welcher Situation und wie wurde das Symptom ausgelöst? Heute weiss ich: Alles hat einen seelisch-geistigen Ursprung, eine innere Disharmonie. Wir in unserer Kultur wurden nicht gelehrt, auf solche Dinge zu achten. Im Osten wachsen die Menschen damit auf.

Alles hat einen seelisch-geistigen Ursprung. – Bild: Marielle Schlunegger

Was hat Ihnen Ihre Ausbildung in Schulmedizin gebracht?

Ich war sehr froh um diese Kenntnisse, haben sie mir doch Bestätigung und dadurch gezieltere Untersuchungen und Therapien erlaubt.

Haben Sie auch sich selbst therapiert?

Ich hatte Heuschnupfen und steckte mir ein 2,8 Millimeter-Nädeli, wie ein «Spiessli», befestigte es mit einem Kleberli und magnetisierte das Metall mit einem Wechselmagnetfeld, wie bei einem Dynamo. So ergab sich eine Langzeitbehandlung mit der Dauernadel. Phantastisch! Ausserdem liess ich mir nach 14 Jahren Abhängigkeit das Rauchen abstellen. Eine Behandlung genügte.

Wie definieren Sie kurz den Unterschied zwischen Schul- und Chinesischer Medizin?

Die Schulmedizin ist funktionell ausgerichtet, die TCM eher energetisch.


Qi – das Gleichgewicht

Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) geht davon aus, dass Krankheiten durch ein Ungleichgewicht der Energien und folglich durch Stauungen oder eine Leere im Körper entstehen. Die Harmonisierung von Strömungen und Schwingungen wird erreicht durch Arzneitherapie, Akupunktur, Moxibustion (Erwärmung von Akupunkturpunkten), Massagen (Tui-Na und Shiatsu), Bewegungsübungen (Taijiquan, Qigong) und Diätetik.

Auf den Meridianen (Leitbahnnetz) unseres Organismus befinden sich über 800 Punkte, die der Arzt durch Setzen von Nadeln reizt und stimuliert oder beruhigt. Dadurch wird das «T Qi» hervorgerufen. Qi = Kraft, Energie.



Ohrakupunktur

Die relativ junge Ohrakupunktur nach Nogier dient sowohl der Diagnostik als auch der Therapie. Der französische Arzt entdeckte, dass sich Störungen im Körper als auffindbare schmerzhafte Punkte auf der Ohrmuschel abbilden und sich darum behandeln lassen.